Mit dem im Mai 2024 veröffentlichten Konzeptpapier „Leitmärkte für klimafreundliche Grundstoffe“[1] hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK)[2] einen Impuls zur Unterstützung der industriellen Transformation gegeben. Ziel grüner Leitmärkte ist, durch Nachfrageimpulse – insbesondere seitens der öffentlichen Hand – Investitionssicherheit für klimafreundliche Produktionsprozesse zu schaffen und so den Markthochlauf entsprechender Technologien zu fördern. Sie sollen ein wirtschaftlich tragfähiges Umfeld für CO₂-reduzierte bzw. -neutrale Grundstoffe schaffen, sowohl durch öffentliche Beschaffung als auch durch marktorientierte Anreize für private Nachfrage. Mit den Leitmärkten möchte die Bundesregierung eine zentrale Herausforderung adressieren: Viele klimafreundliche Produkte sind derzeit (noch) nicht wettbewerbsfähig gegenüber konventionell hergestellten Alternativen – ein strukturelles Hemmnis für die industrielle Dekarbonisierung.
Das Leitmarktdesign sollte europaweit kompatibel, vergaberechtssicher und praxistauglich sein und dabei auf deutsches „Gold-Plating“ verzichten. Das BMWK benennt in seinem Konzept insbesondere fünf Produkte, für die grüne Leitmärkte vorrangig verankert werden sollen: klimafreundlicher Qualitätsstahl, klimafreundlicher Baustahl, klimafreundlicher Zement, klimafreundliches Ethylen und klimafreundlicher Ammoniak. Stahl und Zement nehmen hierbei eine Vorreiterrolle ein, da beide Branchen in Abstimmung mit dem heutigen BMWE bereits Zertifizierungsstandards entwickelt haben. Denn: Grüne Leitmärkte können sich in Europa nur dann entwickeln, wenn sie auf klaren Definitionen, Standardregeln zur Zertifizierung und transparenten Einordnungen von Prozessen und Produkten basieren. Dazu bedarf es eines branchenweit abgestimmten Regelwerks, das international anschlussfähig ist: Für Stahl das einsatzbereite, breit unterstütze freiwillige Kennzeichnungssystem ‚Low Emission Steel Standard (LESS)‘, das Stähle nach Transformationsfortschritt der Produktionsprozesse klassifiziert und darüber hinaus den Recyclinganteil und Carbon Footprint (PCF) des jeweiligen Stahlproduktes ausweist; für Zement das vom Verband Deutscher Zementwerke (VDZ) entwickelte neue CO₂-Label (CCC), das die produktbezogenen Emissionen transparent und einheitlich ausweist. Die Erfahrung dieser Branchen zeigt, wie anspruchsvoll und branchenspezifisch die Entwicklung eines tragfähigen Modells ist.
Während das Wirtschaftsministerium mit seinem Konzeptpapier einen allgemeinen Rahmen für Leitmärkte vorschlägt, positioniert sich der VIK mit diesem Diskussionspapier klar branchenspezifisch. Wir begrüßen die Stoßrichtung des Wirtschaftsministeriums, sehen aber wesentliche Unterschiede in der praktischen Umsetzung:
Der VIK befürwortet die gezielte Einführung von Leitmärkten für Stahl und Zement (optional Papier) auf Basis eines EU-weit anschlussfähigen CO₂-Stufenmodells, vergabefester Gütezeichen und eines befristeten Fast-Track-Verfahrens für First-Mover. In der Chemie setzen wir statt (selektiven) Leitmärkten auf Market-Pull-Mechanismen (u.a. finanzielle und steuerliche Anreize zur Innovations- und Demonstrationsförderung, Mass-Balancing-Standards, PCFs in Endmärkten, neue auszuarbeitende Instrumente). Für öffentlich finanzierte Beschaffungen soll die Klimawirkung mit einem European-Content-Kriterium verknüpft werden, um Resilienz und Versorgungssicherheit zu stärken. Flankierend sind ein wirksamer Carbon-Leakage-Schutz, steuerliche Impulse für private Nachfrage und eine Vergaberechtsreform sowie geeignete Bonus- und Prämiensysteme erforderlich.
Mit dem Beschluss des Sondervermögens für Infrastruktur und Klimaneutralität bietet sich die Chance, CO₂-arme Grundstoffe unmittelbar in bevorstehenden Infrastrukturvorhaben zu verankern. Ausschreibungen sollten gezielt den Einsatz von in Deutschland und in der EU produzierten, möglichst emissionsarmen Produkten berücksichtigen. So entfalten öffentliche Investitionen eine doppelte Wirkung: Sie stärken sowohl die Leistungsfähigkeit der Infrastruktur als auch die industrielle Basis. Ein sichtbares staatliches Vorangehen ist insbesondere in der Einführungsphase entscheidend. Der Einsatz klimafreundlicher Materialien in öffentlichen Projekten zeigt der Grundstoffindustrie, dass der Staat seine Klimaziele selbst umsetzt und bereit ist, CO₂-arme Produkte nachzufragen. Damit werden Mehrkosten abgefedert, Planungssicherheit geschaffen und Investitionen in klimafreundliche Produktionsverfahren wirtschaftlich tragfähig. Frühzeitige Pilotvorhaben setzen zudem verlässliche Marktsignale, die den Hochlauf grüner Leitmärkte unterstützen.
Öffentliche Beschaffungsstellen wie die Deutsche Bahn oder die Autobahn GmbH verfügen über erhebliche jährliche Investitionsvolumina in Infrastruktur und Bauwerke. Sie sind deshalb besonders geeignet, Leitmärkte mit konkreten Projekten zu unterfüttern. Wenn diese Unternehmen klimafreundlichen Stahl oder Zement in Brücken, Gleisbauwerken oder Tunneln einsetzen, entfalten sie eine doppelte Wirkung: Zum einen sichern sie Nachfrage und schaffen Planungssicherheit für Produzenten. Zum anderen erfüllen sie eine Vorbildfunktion, die auch private Märkte motiviert, vergleichbare Standards zu übernehmen. Auf diese Weise werden Leitmärkte nicht nur abstrakte Förderinstrumente, sondern sichtbar in der Praxis verankert.
Neben der öffentlichen Hand muss auch die private Nachfrage aktiviert werden. Steuerliche Anreize sowie Bonus- und Prämienmodelle spielen dabei eine zentrale Rolle. Reduzierte Mehrwertsteuersätze für zertifiziert CO₂-reduzierte Produkte, befristete Sonderabschreibungen für Investitionen in klimafreundliche Materialien sowie Bonussysteme (z.B. Einspeisevergütung für Windenergieanlagen aus CO2-reduziertem Stahl) können Preisnachteile gegenüber konventionellen Produkten abfedern. Gerade in kostengetriebenen Branchen ist eine steuerliche Entlastung ein wirksames Signal. Solche Maßnahmen wirken als Brücke, bis sich die Kostendifferenz durch die zunehmende Wirtschaftlichkeit klimafreundlicher Produktionsverfahren dauerhaft verringert.
Das geltende Vergaberecht setzt bislang enge Grenzen für die Berücksichtigung von Klimakriterien. Um Leitmärkte wirksam umzusetzen, müssen CO₂-Kriterien rechtssicher, diskriminierungsfrei und verbindlich in Ausschreibungen integriert werden. Dies betrifft sowohl die Definition von Nachweisanforderungen (z. B. EPDs, Zertifikate, Gütezeichen) als auch die Gewichtung von Preis und Nachhaltigkeit im Vergabeprozess. Eine Reform des Vergaberechts auf nationaler und europäischer Ebene ist deshalb notwendig. Sie schafft die rechtliche Grundlage, um Klimaschutzkriterien verbindlich anzuwenden, ohne Unternehmen durch widersprüchliche oder bürokratische Anforderungen zu überlasten.
Leitmärkte müssen branchenspezifisch gestaltet werden, um praxistauglich zu sein. Deshalb ist eine enge Einbindung der betroffenen Branchen unverzichtbar. Branchendialoge ermöglichen es, gemeinsam Grenzwerte, Übergangsfristen und Auditverfahren festzulegen. Nur so kann gewährleistet werden, dass Vorgaben realistisch umsetzbar sind und bestehende Produktionsprozesse nicht durch praxisferne Kriterien blockiert werden. Stahl und Zement haben bereits eigene Initiativen gestartet und bringen wertvolle Expertise ein. Diese muss systematisch in die Ausgestaltung der Leitmärkte integriert werden, um Akzeptanz, Verlässlichkeit und Wirksamkeit sicherzustellen. Die Diskussion um europaweite Market-Pull-Mechanismen in der Chemieindustrie muss von der Bundesregierung eng begleitet werden.
Die Diskussion um grüne Leitmärkte zeigt, dass es sich um ein hilfreiches, aber begrenztes Instrument handelt, das bei richtiger Ausgestaltung Wirksamkeit entfalten kann. Damit Leitmärkte tatsächlich zur industriellen Transformation beitragen können, braucht es eine klare Fokussierung, einfach handhabbare, europaweit anschlussfähige Standards sowie flankierende Maßnahmen zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit. Der VIK fasst seine zentralen Positionen wie folgt zusammen:
Seniorreferentin für industrielle Transformation