Kurzzusammenfassung
Das Urteil des EuGH (C-293/23) vom 28.11.2024 wird zu einer erheblichen Erhöhung des administrativen und regulatorischen Aufwandes für betroffene (bisherige) Kundenanlagenbetreiber (KAB), Dritte in diesen Kundenanlagen und Regulierungsbehörden führen. Diese werden im Folgenden detailliert ausgeführt. Aus diesem Grund ist es aus Sicht des VIK notwendig, dass der deutsche Gesetzgeber zum einen kurzfristig alle Möglichkeiten nutzt, im Rahmen der bestehenden EU-Vorgaben eine Lösung zu schaffen, die den erheblichen administrativen Aufwand möglichst weitgehend vermeidet, und sich zum anderen umgehend für eine nachhaltige und planbare Verankerung einer der Kundenanlagenregelung äquivalenten Regulierungsausnahme in den einschlägigen EU-Richtlinien einsetzt.
1. Sachverhalt
Im Jahr 2018 plante und errichtete ENGIE Deutschland zwei KWK-Anlagen mit 20 kW und 40 kW elektrischer Leistung. Diese Anlagen sollten in zwei Wohngebieten installiert und die erzeugte Elektrizität an die Mieter verkauft werden. ENGIE meldete bei dem zuständigen Verteilnetzbetreiber ZEV Netzanschlüsse für zwei getrennte Kundenanlagen an und beantragte den Anschluss an deren Netz sowie die Bereitstellung der erforderlichen Zählpunkte. ZEV lehnte diese Anträge ab, da es sich ihrer Meinung nach nicht um Kundenanlagen im Sinne von § 3 Nr. 24a EnWG handele. Der BGH legte den Fall, aufgrund von Zweifeln an der Vereinbarkeit der Regelung des § 3 Nr. 24a EnWG mit dem EU-Recht, dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.
Der EuGH hat in einem Urteil vom 28.11.2024 entschieden, dass die deutsche Regelung des § 3 Nr. 24a EnWG über allgemeine Kundenanlagen europarechtswidrig sei.
Die vom deutschen Gesetzgeber 2011 geschaffene Regelung zu Kundenanlagen, schreibt fest, dass diese die diskriminierungsfreie und unentgeltliche Durchleitung und damit den freien Lieferantenwechsel für Dritte ermöglichen müssen. „Seitdem kennt das EnWG zwei Typen von Kundenanlagen: Die „allgemeine“ Kundenanlage nach § 3 Nr. 24a EnWG sowie die Kundenanlage zur betrieblichen Eigenversorgung nach § 3 Nr. 24b EnWG, die auf einen industriellen Kontext abzielt. Beide haben sehr ähnliche Voraussetzungen und sind seither grundsätzlich von den Regulierungsanforderungen für Netze ausgenommen“.
Der EuGH begründet seine Entscheidung mit wettbewerbsverzerrenden Aspekten. Die deutsche Regelung sei geeignet, eine nicht unerhebliche Anzahl von Einrichtungen vom Anwendungsbereich der den Verteilernetzbetreibern obliegenden Verpflichtungen auszunehmen. Diese Einrichtungen entsprechen Anlagen, die dazu dienen, Elektrizität mit Hoch-, Mittel- oder Niederspannung, die zum Verkauf an Kunden bestimmt ist, weiterzuleiten. Dies würde im Widerspruch zu den integrierten Märkten stehen, die mit der Richtlinie 2019/944 geschaffen werden sollen. Würde man eine solche Ausnahme gestatten, könnte dies das Ziel gefährden, für die Schaffung nicht nur wirklich integrierter, sondern auch wettbewerbsgeprägter, verbraucherorientierter, fairer und transparenter Elektrizitätsmärkte in der Union zu sorgen. Zweck der Regulierung sei es, zu verhindern, dass Netzbetreiber ihre Monopolstellung ausnutzen und damit (zum Nachteil der Verbraucher) in den Wettbewerb in den Energiemärkten eingreifen. In der Urteilsbegründung hat der EuGH grundsätzlich die deutsche Regelung zu Kundenanlagen infrage gestellt.
Es ist damit zu rechnen, dass Mitte Mai 2025 der BGH den konkreten Fall endgültig entscheiden wird. Auch wenn das Urteil zunächst nur inter-partes gilt, wird das Urteil samt Begründung wesentliche Auswirkungen auf die Regulierung von Industriestandorten haben.
2. Konsequenzen
Das Urteil dürfte damit signifikante Auswirkungen auch an Industriestandorten entfalten, da Kundenanlagen nach § 3 Nr. 24a EnWG in Deutschland eine wichtige Rolle in der betrieblichen Stromversorgung über alle Branchen hinweg spielen. Damit stehen insbesondere die bisherigen administrativen Erleichterungen von regulatorischen Vorschriften, die für Kundenanlagen gelten, auf dem Spiel und es droht ein außerordentlich hoher Aufwand für Unternehmen und Regulierungsbehörden. Es könnte zu befürchten sein, dass das Urteil zu § 3 Nr. 24a EnWG über Kundenanlagen auch auf Kundenanlagen zur betrieblichen Eigenversorgung nach §3 Nr. 24b EnWG übertragen wird.
Die folgenden Ausführungen skizzieren die drohenden Konsequenzen einer jahrelang gelebten Praxis dezentraler Versorgungsmodelle in finanzieller als auch in administrativer und bürokratischer Hinsicht für die Industrie und den Wirtschaftsstandort Deutschland.
2.1. Ohne Kundenanlagen-Regelung werden Kundenanlagen zu Geschlossenen Verteilnetzen oder Netzen der allgemeinen Versorgung
In Abgrenzung zur Rechtsfigur der Kundenanlage unterscheidet der Gesetzgeber zwei voll regulierte Netzformen im EnWG (1) Netze der allgemeinen Versorgung (§3 Nr. 17 EnWG) und (2) Geschlossene Verteilernetze (§110 EnWG). Der Unterschied zwischen diesen beiden Ausprägungen besteht darin, dass geschlossene Verteilernetze von einigen wenigen Regulierungsvorschriften ausgenommen sind. Bspw. unterliegen sie nicht der Anreizregulierung. Für den Status eines Geschlossenen Verteilernetzes sind enge Kriterien lt. § 110 EnWG zu erfüllen, wie bspw. die Versorgung innerhalb eines begrenzten Industrie-/Gewerbegebiets und eine konkrete technische oder sicherheitstechnische Verknüpfung der versorgten Unternehmen oder eine Verteilung der Energie in erster Linie an den Netzeigentümer bzw. verbundene Unternehmen. Zudem bedarf es einer Genehmigung der zuständigen Regulierungsbehörde. Ein Geschlossenes Verteilernetz gilt ab vollständiger Antragsstellung bis zur Entscheidung der Regulierungsbehörde als Netz der allgemeinen Versorgung gemäß §3 Nr. 17 EnWG. “.
Sollte die Grundlage sowie der Status für nicht regulierte Kundenanlagen dauerhaft entfallen, droht die Einstufung der Anlagen mindestens als Geschlossenes Verteilnetz, wenn nicht sogar als Netz der allgemeinen Versorgung. Daraus würden sich eine Reihe von Pflichten ergeben, welche hohen zusätzlichen Aufwand in Form von neuen Marktrollen, Bürokratiezuwachs als auch Investitionen nach sich ziehen.
2.2. Konsequenzen für aktuelle Kundenanlagenbetreiber
Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung gilt zwar die bestehende Kundenanlagenregelung weiter, gleichwohl ist die breite Anwendungspraxis der weitgehend von Regulierungspflichten entlasteten Kundenanlage seit dem EuGH-Urteil – bis zu einer gesetzlichen Neuregelung – mit erheblichen Risiken verbunden, denn die Regulierungsbehörden werden bei möglichen Überprüfungen von Kundenanlagen das EuGH-Urteil zugrunde legen. Im schlechtesten Fall könnte die Behörde sogar den weiteren Betrieb des Netzes untersagen und den Betreiber mit Sanktionen belegen.
Eine Vielzahl neuer regulierter Verteilnetzbetreiber (konservative Schätzungen gehen von Tausenden neuer Verteilnetzbetreiber aus) würde entstehen, die behördlich reguliert werden müssten.
Dies würde nicht nur große zeitliche und personelle Aufwände zeitgleich bei den Regulierungsbehörden, im Falle der Vielzahl der zu erwartenden Anträge, auf den Betrieb geschlossener Verteilernetze bedeuten, sondern steht auch dem übergeordneten Credo des Bürokratieabbaus entgegen.
2.2.1. Meldepflichten
Sollte es keine richtlinienkonforme, praxistaugliche Anpassung der Regelungen geben, drohen einer Vielzahl von KAB die Umwandlung Ihrer dezentralen Versorgungskonzepte und damit die Übernahme der Rolle eines Netzbetreibers mit allen Registrierungs-, Melde- und Veröffentlichungsplichten.
2.2.2. Messkonzept
Selbst wenn eine ehemalige Kundenanlage zukünftig den Status eines Geschlossenen Verteilnetzbetreibers erhalten würde, wäre damit ein erheblicher Zusatzaufwand verbunden: Auch für Geschlossene Verteilernetze gelten eine Vielzahl von regulatorischen Pflichten gem. EnWG, zugehörenden Verordnungen (bspw. StromNEV), Festlegungen der BNetzA und anderen Gesetzen, wie bspw. EEG und MessEG: Beispielsweise sind dies eine massenfähige Marktkommunikation, Datenaustauschprozesse, Veröffentlichungspflichten, Netzentgeltkalkulationen und insbesondere auch buchhalterische Entflechtungsvorgaben mit separaten Jahresabschlüssen.
Sollte hier zeitnah keine praxistaugliche Neuregelung gefunden werden, drohen langwierige und kostenintensive Umbauten, die ggf. Abschaltungen des Kunden erfordern: Insbesondere die umzusetzende Rolle eines grundzuständigen Messstellenbetreiber nach MsbG dürfte im Einzelfall zu einem erheblichen Investitions- und Umbaubedarf führen. Denn neben den zu etablierenden Prozessen für einen Messstellenbetreiberwechsel und der Umsetzung massengeschäftstauglicher, komplexer Kommunikationsprozesse, müssten bspw. in der Niederspannung u.U. die in einem Industriestandort üblicherweise Installationen der Messeinrichtungen über bestehende Hutschienensystemen durch 3 Punktbefestigungsmöglichkeiten ersetzt werden. Dies gilt auch, um den dann verpflichtenden Rollout intelligenter Messsysteme umzusetzen. Die Frage nach genügend Fachpersonal zum Umbau der erforderlichen Systeme stellt sich hier ebenfalls.
Neben den beschriebenen finanziellen, personellen sowie administrativen Mehrbelastungen würde dies keinerlei messbare Produktivitätsverbesserungen bedeuten.
2.2.3. Entflechtung
Darüber hinaus müssten die Regeln zur Entflechtung (unbundling) angewendet werden (informationelle Entflechtung gem. § 6a EnWG, buchhalterische Entflechtung gem. § 6b EnWG, der rechtlichen Entflechtung gem. § 7 EnWG sowie operationelle Entflechtung gem. § 7a EnWG sowie weitere Veröffentlichungspflichten des § 23c EnWG.
Betroffene Unternehmen müssten innerhalb kürzester Zeit, die finanziellen und personellen Kapazitäten sowie die entsprechenden fachlichen Kompetenzen aufbauen, welche eine entflochtene Buchhaltung notwendig machen. Zuletzt bleibt fraglich, ob die beauftragten Wirtschaftsprüfer die erforderlichen Testate bis Ende des Jahres 2025 fristgerecht ausstellen könnten und ob ganz grundsätzlich genügend Wirtschaftsprüfer, unter der Annahme der zusätzlich hinzukommenden Verteilnetzbetreiber, für diese Aufgabe zur Verfügung stünden.
2.2.4. Anschlusspflicht Dritter
Durch die Aufnahme des Netzbetriebs erweitert sich unter Umständen die Anschlusspflicht auf Verbraucher außerhalb des Betriebsgeländes, insb. wenn Verteilnetzbetreiber in der Nähe keine zusätzliche Leistung mehr bereitstellen können. Der KAB müsste zukünftig einem Netzanschlussbegehren nach §17 EnWG/ §8 EEG/ §3 KWKG nachkommen (alle damit verbundenen Anforderungen, Fristen, Transparenz über den Status des Anschlussverfahrens sowie der anfallenden Kosten für einen zusätzlichen Netzausbau müssten eingehalten werden).
Der KAB müsste zukünftig selbst komplexe Wechselprozesse nach GPKM (Geschäftsprozesse zur Kundenbelieferung mit Elektrizität) und WIM (Wechselprozesse im Messwesen) implementieren und Zählpunkte nach EnWG einrichten, wenn ein Dritter in einer Kundenanlage den Lieferanten wechseln möchte. Bisher obliegt diese Aufgabe dem vorgelagerten Netzbetreiber. Netzbetreiber, die Tausende von Haushaltskunden versorgen, die regelmäßig ihren Anbieter wechseln, können diese Prozesse stabil betreiben, da sie sehr oft vorkommen. In Industrienetzen müssen diese Prozesse für wenige Transaktionen im Jahr vorgehalten werden, wodurch die Fehleranfälligkeit der Prozesse steigt.
2.2.5. Kosten
Die Kosten würden signifikant steigen, insbesondere für Industriestandorte mit KWK-Eigenerzeugung, da Netzumlagen für den gesamten Stromverbrauch gezahlt werden müssen, auch für den am Standort erzeugten Strom. Regelungen für individuelle Netzentgelte (z. B. Atypik) könnten entfallen und würden die Netzkosten bzw. Netzentgelte erhöhen. Auch Konzessionsabgaben könnten anfallen.
Im Wesentlichen liefe es auf eine Dopplung vieler Tätigkeiten hinaus, die heute bereits vom Anschluss-VNB/ÜNB durchgeführt werden. Ein inhaltlicher Mehrnutzen wird nicht generiert. Keines der sinnvollen Ziele der Netzregulierung (Anschlusspflicht, diskriminierungsfreie Durchleitung, freie Versorgerwahl und jederzeitiger Lieferantenwechsel) würde mit dem Wegfall der Kundenanlagenregelung besser als bisher erreicht. Tatsächlich entstünde eine signifikante Steigerung von Bürokratieaufwand – sowohl auf Unternehmensseite als auch auf Behördenseite.
2.2.6. Umgang mit Onsite PPA
(Grüne) Onsite-PPAs (Wind, PV) würden möglicherweise nicht länger begünstigt bleiben. Damit würden insbesondere in der industriellen Anwendung Dekarbonisierungsbestrebungen erheblich erschwert und der Ausbau dezentraler Versorgungsstrukturen gehemmt werden. Eine Vielzahl von Betreibern müssten eine rückwirkende Verschlechterung für bereits getätigte Investitionen in Kauf nehmen oder auf unwirtschaftlichere Lösungen umstellen.
3. Forderung von Übergangsregelung und nachhaltiger Langfristlösung
Aus Sicht des VIK ist eine Nachfolgeregelung für die Rechtsfigur der Kundenanlage unerlässlich, die verhindert, dass heutige Kundenanlagen zukünftig den Regulierungsvorgaben für Netzbetreiber unterliegen. Sofern es dazu einer Lösung auf EU-Ebene bedarf, sollte sich die Bundesregierung unverzüglich für eine nachhaltige Anpassung der RL (EU 2019/944) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019 mit gemeinsamen Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt in Bezug auf eine Erweiterung des Katalogs zulässiger Ausnahmen, einer Klarstellung zum Umgang mit der industriellen Eigenversorgung sowie einer klaren Abgrenzung des Verteilnetzbegriffs mit seinen einhergehenden Pflichten einsetzen. Bestenfalls sollte dies in Abstimmung mit anderen EU-Mitgliedsstaaten zu einer einheitlichen, europäischen Regelung führen.
Da zu erwarten ist, dass mit einer Novellierung der Richtlinie und damit die Chance zur Anpassung bzw. der Erweiterung des Ausnahmenkatalogs nicht kurzfristig zu rechnen ist, plädiert der VIK für eine praxistaugliche und rechtssichere Übergangsregelung unter Ausnutzung aller nationalen gesetzgeberischen Spielräume und Einhaltung der Europarechtskonformität.
Der VIK ist bereit, die Expertise seiner Mitglieder in die Ausgestaltung einer Übergangsregelung und einer langfristigen Lösung einzubringen.
Referentin für Energie- und Stromwirtschaft