VIK-Stellungnahme zum Eckpunktepapier der BK4 der BNetzA zur Fortentwicklung der Industrienetzentgelte im Elektrizitätsbereich vom 24. Juli 2024 (BK4-24-027)
Zusammenfassung / Kernbotschaften
Der VIK weist zunächst auf die enorme wirtschaftliche Bedeutung der individuellen Netzentgelte hin, die insbesondere vor dem Hintergrund stark angestiegener und perspektivisch weiter steigender Netzentgeltkosten in den letzten Jahren nochmals zugenommen hat. Die individuellen Netzentgelte waren und sind ein gewichtiger Standortfaktor, die eine wirtschaftliche Produktion an deutschen Standorten erst ermöglichen, indem sie für stromintensive Grundstoffhersteller über den Ansatz des physikalischen Pfades
zur Ermittlung angemessener Netzkosten betreffend der Netzkosten eine Annäherung an den internationalen Wettbewerb bieten.
Eine ersatzlose Aufhebung der Bandlastregelung würde zu einer drastischen Netzkostenerhöhung für die Bandlastkunden führen, von denen viele bestenfalls in begrenztem Umfang Flexibilitäten anbieten können bzw. die ihr Flexibilitätspotenzial bereits vollständig ausgeschöpft haben. Diese energieintensiven Betriebe stehen in einem intensiven Wettbewerb mit Standorten außerhalb Deutschlands. Ein Wegfall bzw. eine drastische Reduktion der Netzentgeltentlastung hätte demnach große wirtschaftliche Nachteile für die energieintensive Industrie und könnte der Elektrifizierung von industriellen Prozessen im Wege stehen.
Mit Blick auf die Überlegungen der BNetzA, künftig nur Produktionsstandorte, die zu einer
„erheblichen“ Lasterhöhung oder „erheblichen“ Lastreduktion imstande sind, mit einer Netzentgeltreduzierung auszustatten, ist davon auszugehen, dass in einer neuen Entlastungssystematik deutlich weniger Unternehmen einen Anspruch auf ein reduziertes Netzentgelt hätten, als es bisher der Fall ist.
Unternehmen, deren Flexibilisierungspotenziale schon heute nahezu ausgeschöpft sind oder die keine technischen Potenziale aufweisen, würden bei Wegfall der Bandlastregelung mit erheblichen gestiegenen Netzentgeltkosten kalkulieren müssen. Diese Entwicklungen hätten dramatische Folgen für den Industriestandort Deutschland.
Die von der BNetzA geäußerte Absicht, bei einer etwaigen Reform der „Industrienetzentgelte“ eine Überforderung der Letztverbraucher zu verhindern, wird daher ausdrücklich begrüßt. Ebenso positiv hervorzuheben sind an dieser Stelle die Ausführungen der Bundesregierung zum geplanten Wachstumspaket, dass eine „Verlängerung der Regelungen gemäß § 19 Abs. 2 Satz 1 bzw. Satz 2 der StromNEV“ vorgenommen bzw. Maßnahmen ergriffen werden sollen, die die entsprechende Entlastungswirkung verlängern. Die BNetzA und Bundesregierung sollten daher die entsprechenden Maßnahmen im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen eng koordinieren und sich gegebenenfalls mit der EU-Kommission eng abstimmen, damit etwaige europarechtliche Bedenken oder Hürden schnell ausgeräumt werden können. Dazu gehört auch eine umfassende Erhebung und Einschätzung der tatsächlichen und perspektivisch nutzbaren Flexibilitätspotenziale in der Industrie. Diese sollten eingehend untersucht werden, damit eine umfassende und Datengrundlage geschaffen wird, um zukünftige Flexibilitätserwartungen realistisch einschätzen zu können. Ohne eine solche Grundlage beinhaltet die regulatorische Vorgabe von Flexibilitätsanforderungen das große Risiko von Fehlsteuerungen und ungewollten Entwicklungen.
Lastseitige industrielle Flexibilitätserbringungen sind mit großen betriebswirtschaftlichen Herausforderungen verbunden. Die meisten Industrieprozesse lassen sich nur eingeschränkt und unter bestimmten Voraussetzungen flexibilisieren. Zu hohe Flexibilitätserwartungen an die Industrie sind daher allein schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht erfüllbar. Für komplexe und kapitalintensive industrielle Produktionsprozesse wird aus fundamentalen betriebswirtschaftlichen und technischen Gründen eine möglichst gleichmäßige Anlagenauslastung angestrebt. Industrielle Anlagen sind daher auf eine Auslastung von annähernd 100 % ausgelegt, um in Deutschland wirtschaftlich produzieren zu können.
Hinzu kommt, dass nicht alle stromintensiven Verbraucher aus technischen, regulatorischen (bspw. Genehmigungen für Lagerhaltung) und personalbedingten Gründen in der Lage sind, dem Stromsystem Flexibilitäten zur Verfügung zu stellen. Die Implementierung von Flexibilität in den Industriebetrieben ist komplex und hat viele Facetten, wie bspw. die technische Flexibilisierung von Anlagen, Investitionen in flexible lokale Energieversorgung von Prozessdampf sowie Investitionen in energiewirtschaftliche Prozesse und Personal.
Zudem setzt bereits die allgemeine Netzentgeltsystematik aufgrund der starken Gewichtung der Leistungspreiskomponente starke Anreize zu einem möglichst gleichmäßigen Stromverbrauch, weil dieser zu den geringsten spezifischen Netzkosten führt - auch ohne die Regelung des §19 Abs.2 Satz 2 StromNEV. Eine Abschaffung dieser Regelung würde also keineswegs automatisch zu einem deutlich flexibleren Abnahmeverhalten industrieller Letztverbraucher führen. Vor diesem Hintergrund sollte zunächst die von der BNetzA angekündigte Überprüfung der allgemeinen Netzentgeltsystematik erfolgen.
Auch im Hinblick auf mögliche Investitionen in Flexibilisierungsmaßnahmen ist eine realistische Bestandsaufnahme erforderlich: Angesichts der im Eckpunktepapier in Aussicht gestellten Umstellung der Netzentgeltentlastung von industriellen Letztverbrauchern hin zu stärkeren Flexibilitätsanforderungen stellt sich die Frage nach dem wirtschaftlichen Zielbild. Industrielle Verbraucher brauchen erhebliche Anreize für Investitionen in die Flexibilisierung des Last- und Produktionsverhaltens. Diese Investitionen wiederum erfordern Planungs-, Rechts- und Investitionssicherheit sowie Technologieoffenheit. Wenn zukünftig das Netz sowie der Ausbau von Stromspeichertechnologien vorangeschritten sowie das Verhalten individueller Stromnutzer (z.B. durch E-Autos und Wärmepumpen in Haushalten) weitgehend flexibel sein sollte, besteht die Gefahr, dass die Wirtschaftlichkeit von Investitionen in flexibles industrielles Lastverhalten stärker in Zweifel zu ziehen wäre: Die Preis-Spreads, die für die Wirtschaftlichkeit von Flexibilisierungsmaßnahmen erforderlich sind, könnten dann aufgrund des „Selbstkannibalisierungseffekts“ von stärkerer Flexibilität im System (Stromspeicher, nachfrageseitige Flexibilität auch im Kleinverbrauchersegment, …) nicht mehr ausreichend vorhanden sein, sodass sich Investitionen in ein flexibles Verhalten der Industrie nicht amortisieren würden.
Wenn das Netzentgeltsystem vom Leitmotiv der volkswirtschaftlich kosten- und energieeffizienten Versorgung von Verbrauchern hin zur Ermöglichung einer möglichst hohen Nutzung volatiler EE geändert wird, so muss mit zwei unintendierten Konsequenzen gerechnet werden: Die Stromversorgung wird teurer und der Energie- und Rohstoffverbrauch 1 wird ineffizienter. Diese beiden Konsequenzen kompromittieren die Wettbewerbsfähigkeit zusätzlich zu den bereits bestehenden Problemen. Es besteht daher die Gefahr, dass die entgangenen Gewinne durch Produktionsausfälle aufgrund von Flexibilitätserbringungen, organisatorischen Mehraufwand, etc. die gesamte zu erwartende Vergünstigung wieder zunichtemachen und die Wirkung der Vergünstigung nicht eintritt.
1 Produktionsprozesse in der Grundstoffindustrie, bspw. in der Chemie, sind auf einen kontinuierlichen Verbrauch im Wesentlichen von Dampf und Strom angewiesen. Sollten Anlagen flexibel gefahren werden, hätte dies nicht nur Ineffizienzen beim Strom- sondern v.a. beim Dampfverbrauch zur Folge. Darüber hinaus könnten Roh-
/Einsatzstoffe nicht optimal in den Produktionsprozessen umgesetzt werden, was zu Qualitätseinbußen und erhöhten Ausstoß von Abfällen führen würde.
Lastseitige industrielle Flexibilisierungsmaßnahmen stehen im Zielkonflikt mit Energieeffizienzanforderungen. Die Erbringung von Flexibilität bedeutet in der Regel eine Abweichung von einer effizienten Betriebsweise, die am optimalen technischen Betriebspunkt liegt. An- und Abfahrprozesse gehen mit Effizienzverlusten sowie höherem Energieverbrauch und THG-Emissionen einher. Eine Flexibilitätserbringung darf für ein Unternehmen daher keine negativen Auswirkungen bei Energieeffizienzanforderungen haben, die bspw. bei den
„ökologischen Gegenleistungen“ im Zusammenhang mit verschiedenen Strompreisentlastungen gefordert werden.
Im Eckpunktepapier der BNetzA zu BK4-24-027 wird ein unflexibles Abnahmeverhalten als
„gesamtökonomisch nachteilhaft“ beschrieben, da es die Integration erneuerbarer Energien in den Strommarkt hemme. Der VIK teilt diese Einschätzung nicht. Es ist zwar anzuerkennen, dass durch ein flexibles Stromabnahmeverhalten die Nutzung von erneuerbaren Energieanlagen (EE-Anlagen) gesteigert sowie das Stromnetz punktuell entlastet werden könnte. Es wird aber verkannt, dass für eine gesamtökonomische Betrachtung auch Effekte außerhalb des Energieversorgungssystems betrachtet werden müssen. Stärker flexibilisierte Produktionsprozesse führen zu Abweichungen vom optimalen Betriebspunkt, damit zu höheren Kosten, technischen Ineffizienzen (vgl. 1.3), Störungen von Lieferketten und zu internationalen Wettbewerbsnachteilen (vgl. 1.2) mit Auswirkungen auf Arbeitsplätze, Kaufkraft und weiteren Folgen für die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt. Ein Rückschluss allein von der möglichen Vorteilhaftigkeit in Bezug auf das Energieversorgungssystem auf eine Aussage über die Gesamtvolkswirtschaft verbietet sich daher.
Es bestehen daher erhebliche Zweifel, ob eine vorgegebene stärkere Flexibilisierung der Industrie „gesamtökonomisch“ Vorteile bringt. Im Gegenteil, nach Einschätzung des VIK stehen die möglichen dramatischen gesamtökonomischen Auswirkungen eines Wegfalls der Bandlastregelung in keinem angemessenen Verhältnis zu möglichen Vorteilen für das Stromsystem durch lastseitiges industrielles Flexibilisierungsverhalten.
Auch in einem von EE geprägten Energiesystem hat ein Bandlastverhalten Vorteile mit Blick auf Netzdienlichkeit und Planbarkeit. Die im Eckpunktepapier postulierte generelle Systemschädlichkeit der Bandlast ist in dieser Allgemeinheit nicht gegeben. Im Gegenteil ist sie als notwendiges Pendant zum unverzichtbaren Mindesterzeugungssockel bis auf Weiteres die Grundlage für einen sicheren Netzbetrieb und darüber hinaus auch die beste Voraussetzung, um verlässlich und zu jeder Zeit systemdienliche Flexibilität überhaupt anbieten zu können. Des Weiteren verschiebt diese Bewertung im Eckpunktepapier aus Sicht des VIK den Ausgangspunkt: Wirklich systemschädlich ist ein Verhalten, das gegen die Netzstabilität läuft. Dies würde zum Beispiel auch auf eine flexible Lastabnahme zutreffen, die in die „falsche“ Richtung vorgenommen wird (bspw. Strommehrbezug in einer ohnehin engpassbehafteten Region). Eine Bandlastabnahme ist daher nicht per se netzschädlich,
sondern stellt einen neutralen Basisfall dar. Zudem ist zu konstatieren, dass Netzengpässe und Ineffizienzen im Stromsystem eher einer mangelnden Synchronisierung des Zubaus von (EE-)Erzeugungskapazitäten und Netzausbau geschuldet sind und weniger dem Lastverhalten industrieller Großverbraucher. Diese Probleme dürfen nicht dazu führen, dass technische, betriebswirtschaftliche und organisatorische Grundsätze der industriellen Produktion zwangsweise umgestellt werden müssen. Es bestehen jedenfalls erhebliche Zweifel, dass industrielle Flexibilität die Probleme im Stromnetz lösen kann. Bestehende und potenzielle zukünftige industrielle Lastflexibilitäten können zwar einen Beitrag zur Problemlösung darstellen, sie dürfen aber nur auf freiwilliger anreizbasierter Basis genutzt werden. Der synchrone Ausbau von Stromerzeugung, Netzen und Speichern (inkl. Wasserstoff) ist wichtig. Lastseitige Flexibilität kann eine Stütze des Energiesystems sein, kann aber die anderen Säulen nicht ersetzen.
§ 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV
Die BNetzA schlägt im Eckpunktepapier einen „systemdienlichen Flexibilitätsanreiz“ vor. Demzufolge soll eine Entlastung im Bereich der Netzentgelte zukünftig nur dann erfolgen, sofern ein Netznutzer in Zeiten hoher bzw. niedriger Strompreise von seinem „normalen“ Lastverhalten abweicht. Dieser Ansatz baut auf dem Zeitfenstermodell der Flexibilitätsfestlegung BK4-22-089 auf.
Aus den oben dargelegten Gründen sollte ein solcher Ansatz nicht verpflichtend eingeführt werden und die bisherige Regelung des §19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV ablösen. Stattdessen sollte, aufbauend auf der Bandlastreglung und der erwähnten Flexibilitätsfestlegung, ein Anreiz gesetzt werden, ausgehend vom gleichmäßigen Abnahmeverhalten optional Flexibilität für das Energiesystem bereitzustellen. Dies würde auch der im Eckpunktepapier niedergelegten Absicht der BNetzA Rechnung tragen, die industriellen Letztverbraucher nicht zu überfordern und das tatsächlich vorhandene und künftig erreichbare Flexibilitätspotenzial zu realisieren. Dazu bedarf es einer langfristigen Perspektive einschließlich planbarer Rahmenbedingungen für die optionale Flexibilitätserbringung. Dies kann durch eine längerfristige Fortschreibung der §19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV-Regelung, ergänzt um eine Entfristung und Überarbeitung der Inhalte der Festlegung BK4-22-089, erfolgen.
Mit einer solchen Ergänzung der Bandlastregelung um eine optionale Erbringungsmöglichkeit von vorhandenem und künftigem Flexibilitätspotenzial ließen sich die netzseitigen und wirtschaftlichen Vorteile der Bandlastregelung erhalten, gleichzeitig aber auch die für ein von EE geprägtem Stromsystem notwendigen lastseitigen industriellen Flexibilitätspotenziale heben. Der zusätzliche wirtschaftliche Anreiz für Industrieunternehmen, die über das entsprechende technisch-wirtschaftliche Flexibilitätspotenzial verfügen bzw. nach Tätigung von Investitionen darüber verfügen könnten, führt zu der von der BNetzA intendierten Erhöhung des Flexibilitätspotenzials der Industrie.
Bei der die Bandlastregelung ergänzenden optionalen Flexibilitätsregelung sollten inhaltlich folgende Grundsätze beachtet werden:
Der geforderte Flexibilitätsumfang („Hub“ - Anpassung der Last im Zeitfenster gegenüber der „normalen“ Fahrweise, ausgedrückt in MW oder %) muss hinsichtlich der Anforderungen bzgl. der Flexibilitätserbringung die tatsächlichen, von Branche zu Branche und Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlichen Möglichkeiten der Industrie berücksichtigen und dementsprechend keine zu hohen Anforderungen setzen.
Je nach Anforderung des Marktes bzw. des Stromsystems zu einem bestimmten Zeitpunkt haben sowohl eine Erhöhung als auch eine Senkung des Strombezugs aus dem Netz eine positive Wirkung. Daher müssen beide Optionen gleichberechtigt zu einer Entlastung führen. Demgegenüber darf aber eine symmetrische Erbringung von Flexibilität in beide Richtungen keine Voraussetzung für die Entlastung sein – dadurch würde Flexibilitätspotenzial in der Industrie verschenkt, weil Umfang, Dauer und Möglichkeit zu Hoch- oder Herunterfahren in Abhängigkeit vom jeweiligen Prozess sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können.
Die Überlegungen der BNetzA gehen dahin, dass ein Letztverbraucher dann als flexibel betrachtet wird, wenn sein Abnahmeverhalten erheblich von seinem „durchschnittlichen“ Bezug abweicht. Laut Eckpunktepapier ist dabei ein wesentlicher Parameter der Lastgang des Letztverbrauchers über das Jahr.
Es sollte klargestellt werden, dass der Referenzwert, von dem aus die Abweichung ermittelt wird, tendenziell durch eine kurzfristige Betrachtung vor dem Zeitpunkt/Zeitraum, in dem eine flexible Laständerung erfolgt, ermittelt wird. Dies ist insbesondere auch deshalb erforderlich, weil sich bei erfolgreicher Flexibilisierung längerfristig ein gänzlich anderes als das „durchschnittliche“ Abnahmeverhalten ergibt.
Auch bei typischen Bandlastkunden schwankt im Jahresverlauf die Last durchaus stärker, sodass ein langfristiger Durchschnitt nur sehr begrenzt aussagekräftig ist. Zudem bedingt die Betrachtung des Marktpreises am Spotmarkt eine kurzfristige Betrachtungsweise – für die Wirkung einer flexiblen Laständerung ist die „Ausgangslast“ unmittelbar vor der flexiblen Reaktion entscheidend, um eine sinnvolle Wirkung auf das Stromsystem auszuüben. Hier kann die Vorgabe der Flexibilitätsfestlegung (BK4-22-089, S.25) als Beispiel dienen, die als Referenzwert die Stromabnahme unmittelbar vor Beginn eines Zeitfensters fortschreibt.
Soweit Unternehmen in Zukunft ihren Strombezug anpassen und flexibles Lastverhalten umsetzen, steigt dadurch die Unsicherheit: Jahrzehntelang eingespielte technisch hoch vernetzte, integrierte und rückintegrierte Prozesse müssen verändert, interne Betriebsabläufe angepasst bzw. sogar komplett neu strukturiert (ohne dass dadurch eine Tonne Produkt mehr produziert würde) und Mitarbeiter neu geschult werden. Damit steigt neben dem nicht unerheblichen finanziellen und logistischen Aufwand das Risiko, dass bestimmte Grenzwerte verfehlt oder Zeitfenstergrenzen unbeabsichtigt überschritten werden.
Da die Unsicherheit bzw. das Risiko, durch verstärkte Flexibilitätserbringungen das individuelle Netzentgelt zu verlieren, steigt, sind in einer zukünftigen Regelung ebenso wie in der Übergangsphase Toleranz- oder Karenzregelungen bei der Flexibilitätserbringung erforderlich (bspw. Nichtberücksichtigung leichter Zielverfehlungen, optionale Betrachtung
kürzerer Zeiträume, abgestufter Entlastungsumfang (Stufen oder linear) in Abhängigkeit vom Hub, …).
Jegliche Signale, die eine flexible Stromentnahmeänderung anreizen sollen, müssen aus Sicht des Letztverbrauchers mit hinreichendem zeitlichem Vorlauf bekannt gegeben werden. Dies gilt sowohl für die Ermittlung von Zeitfenstern für Hoch- oder Niedrigpreiszeiten als auch für Signale zum Netzzustand.
Nicht alle stromintensiven industriellen Letztverbraucher verfügen über einen eigenen Zugang zum Spot- oder Intradaymarkt oder verwalten als Bilanzkreisverantwortliche ihren eigenen Bilanzkreis. In vielen Fällen erfolgt der Strombezug stattdessen über Dritte (Versorger oder Dienstleister), die ggf. auf Anweisung der Letztverbraucher agieren. Es muss in der neuen Regelung sichergestellt werden, dass die optionale Flexibilitätserbringung auch unter Einbezug von Dienstleistern genutzt werden kann.
Das durch Hoch- und Niedrigpreise „systemdienlich“ angereizte Abnahmeverhalten fokussiert vor allem auf marktliche Aspekte und ist nicht automatisch mit Netzdienlichkeit gleichzusetzen. Wie die BNetzA bereits feststellt, können Engpasssituationen regional sehr unterschiedlich auftreten. Kommt es zum Beispiel bei niedrigen bundesweiten Strompreisen lokal zu einer geringen EE -Einspeisung, kann ein Anreiz zur Lastaufnahme sogar lokale Engpässe auslösen, die Netzentgelte durch neue Lastspitzen gegenüber dem vorgelagerten Netz erhöhen bzw. Mehrkosten beim Netzausbau verursachen, gerade in industriell geprägten Netzen.
In Regionen, in denen die Lasterhöhung zu Netzüberlastung führen kann, müssen Zeiträume, in denen Netzbetreiber Lasterhöhungen nicht zulassen, da das Netz überlastet würde, so gewertet werden, als ob eine geplante flexible Reaktion erfolgt wäre. Die Untersagung einer beabsichtigten Flexibilitätserbringung durch den Netzbetreiber darf dem Letztverbraucher in diesem Fall nicht negativ angerechnet werden.
Die Einrichtung eines Mechanismus zur Signalisierung des Netzzustandes sollte kurzfristig in Angriff genommen werden, da sie ein wesentliches Element für die Reform der Sondernetzentgelte hin zu mehr Flexibilität ist. Eine solches Signal (bspw. eine
„Netzampel“) könnte zwischen Übertragungs- und Verteilnetzebene differenziert werden.
Die zukünftig zu erwartenden Netzentgeltentlastungen müssen planbar und zuverlässig sein, da Planbarkeit essenziell für einen guten Industriestandort ist:
Es sollte klargestellt werden, dass für die Bewertung des Lastverhaltens die Stromentnahme aus dem Netz, also die Netzlast, der entscheidende Anknüpfungspunkt ist, nicht der konkrete Verbrauch einer industriellen Produktionsanlage. Durch welche Maßnahmen innerhalb seiner Kundenanlage der Letztverbraucher die Flexibilität gegenüber dem Netz darstellt (bspw. im Zusammenspiel mit eigenen KWK-Anlagen), sollte seiner eigenen Entscheidung vorbehalten bleiben.
Im Eckpunktepapier wird angekündigt, dass eine Neuregelung des § 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV bereits ab 2026 in Kraft treten, es aber eine „hinreichende Übergangsfrist“ für die Letztverbraucher geben soll, „die die Umstellung ihrer Produktion und die Realisierung von Flexibilitätspotentialen in einem angemessenen Übergangszeitraum ermöglicht“ (S.8).
Die wie oben unter 2.1. und 2.2. ergänzte Regelung sollte daher deutlich über das Jahr 2028 (als Endzeitpunkt der heute geltenden StromNEV) hinaus verlängert werden.
Die Kostenwälzung sollte weiter unter Beibehaltung des bewährten Mechanismus der §19 (2)-Umlage in seiner heutigen Form erfolgen.
Der bisherige Ansatz der BNetzA, bei der Folgeregelung für Industrienetzentgelte lediglich eine Anpassung des Abnahmeverhaltens in Bezug auf den Spotmarkt zu entlasten, ist zu eng gefasst und lässt andere wichtige Beiträge der Verbraucher außer Acht, die im Rahmen der Energiewende netz- bzw. „systemdienlich“ sind. Bis der Netzausbau weit genug vorangeschritten ist, schlägt das Eckpunktepapier regionale Ausnahmemöglichkeiten für Netzgebiete vor, in denen eine Reaktion auf Signale am Spotmarkt engpassverschärfend wirken können (S. 10). „Statt des marktbasierten Sondernetzentgelts könnten alternative Vereinbarungen [mit Netzbetreibern] ermöglicht werden, die allein auf ein netzdienliches Verhalten ausgerichtet sind. Beispielsweise könnte ein individuelles Netzentgelt als Gegenleistung für eine explizite Laststeuerung innerhalb bestimmter Grenzen auf Anforderung des Übertragungsnetzbetreibers vereinbart werden “.
Dieser Ansatz sollte deutlich weiter gefasst und nicht auf bestimmte Regionen beschränkt werden – auch um eine Benachteiligung einzelner Regionen zu vermeiden. Analog zu den Plänen der BNetzA für Netzbetreiber könnte auch bei Letztverbrauchern die
„Energiewendekompetenz“ als systemdienliches Verhalten honoriert werden. Dieses umfassendere Konzept würdigt die „systemdienlichen“ Bemühungen der Unternehmen zum Gelingen der Energiewende und kann die diversen technischen und wirtschaftlichen Herausforderungen der Industrie hinsichtlich der nachfrageseitigen Flexibilitätserbringung besser berücksichtigen bzw. die unterschiedlichen Potenziale eher adressieren. Es wäre nicht nachvollziehbar, wenn die BNetzA bei Netzbetreibern die „Energiewendekompetenz“ als wichtigen Faktor für Netzbetreiber beschreibt, jedoch bei industriellen Letztverbrauchern ignoriert.
Folgende arbeits- und leistungsbezogene Kriterien sollten dabei gleichberechtigt umfasst werden:
Auch die Erfüllung einer dieser oben genannten Energiewendekompetenzen sollte die Inanspruchnahme eines Sondernetzentgeltes für die betroffene Abnahmestelle ermöglichen.
In Wertschöpfungsketten an Verbundstandorten sind einzelne Produktionsschritte in ihrer Wertschöpfung prozesstechnisch eng aufeinander abgestimmt und miteinander verflochten. Dementsprechend wirken sich Lastreduktionen oder - erhöhungen immer auch auf die vor- und nachgelagerten Anlagen aus, wodurch Reaktionszeiträume sehr träge sind. In diese Verbünde sind auch Prozesse der Energieversorgung (Strom-, Prozessdampf, Kälteversorgung, …) integriert. Oftmals sind hierbei einzelne Produktionsschritte in unterschiedliche rechtliche Einheiten ausgegliedert. Daher wird angeregt, in solchen Verbundlösungen die Aggregation mehrerer Abnahmestellen zur Erfüllung der Flexibilitätsvoraussetzungen zuzulassen, da diese Unternehmen letztlich mit der Summe ihrer Abnahme- und Einspeisestellen zum Gelingen der Energiewende beitragen und sowohl als Stromerzeuger als auch als -verbraucher netzdienlich agieren können.
Die bestehende Regelung des physikalischen Pfades sollte modernisiert werden. Hier sollte eine lastanteilige Berechnung zu mehreren Kraftwerken ermöglicht werden (nicht 100 % kommen aus einem Kraftwerk) - auch dies spiegelt den Gedanken eines vermiedenen Direktleitungsbaus wider. Ebenso sollten große EE-Netzknoten (deren Benutzungsstunden heute bereits oftmals höher sind als bei bestehenden Kraftwerken) als alternativer Kraftwerks- Punkt akzeptiert werden.
Das Eckpunktepapier der BNetzA fokussiert im Schwerpunkt auf die Regelung des §19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV und zielt darauf ab, einen an Marktpreisen orientierten Flexibilitätsanreiz zu schaffen. Die bestehende Regelung des §19 Abs. 2 Satz 1 („Atypische Netznutzung“) orientiert sich demgegenüber an der Netzsituation. Diese im Grundsatz bewährte Regelung sollte erhalten bleiben, aber punktuell an neue Erfordernisse und Realitäten angepasst werden. Dazu sollten die derzeit im Rahmen des § 19 Abs. 1 Satz 1 StromNEV vorgegeben starren Zeitfenster den neuen Gegebenheiten im Stromsystem angepasst und in den beiden folgenden Punkten weiterentwickelt werden:
In den Zeiträumen, in denen nicht von der höchsten Netzentnahmelast auszugehen ist, sollten die Netzbetreiber die Hochlastzeitfenster grundsätzlich kurzfristig zurücknehmen, um einen höheren Strombezug durch die atypischen Netznutzer zu ermöglichen. Grundsätzlich sollte die Regelung hierbei als „Kann-Option“ für den Netzbetreiber ausgestaltet werden.
Unternehmen, die atypische Netznutzer sind, könnten dadurch im Falle einer Rücknahme der Hochlastzeitfenster durch den Netzbetreiber mehr Strom beziehen, ohne dass dies Auswirkungen auf die Struktur ihrer Netzentgelte hätte, und daher hier mögliche Flexibilitäten realisieren. Hochlastzeitfenster könnten somit genauer und kurzfristiger den Zeitraum einschränken, in dem mit dem Auftreten der höchsten Netzentnahmelast zu rechnen ist und darüber hinausgehende Einschränkungen für die Netznutzer vermeiden.
Die bisherige Festlegung zur Atypik setzt Signale zur Vermeidung von Netzüberlastung (Lastspitzen) und damit zur Vergleichmäßigung der Netzlast durch Definition von Höchstlastfenstern. Diese werden oberhalb von 95 % der Jahreshöchstlast im jeweiligen Betrachtungsjahr festgelegt. Dieses Verfahren berücksichtigt aber nicht die langfristige Entwicklung der Höchstlast. Während der Netzausbau voranschreitet, ist beispielsweise die Jahreshöchstlast im Übertragungsnetz der Amprion signifikant rückläufig. Das bisherige Verfahren zur Ermittlung von Hochlastzeiten ist als Indikator für eine Netzüberlastung daher ungeeignet. Aus Verbrauchersicht ist eine Netzüberlastung bei signifikant geringerer Netzauslastung nicht nachvollziehbar. Stattdessen sollte die Entwicklung durch den Netzausbau und die Auswirkungen auf mögliche Netzüberlastungen realistisch berücksichtigt werden.
Daneben sollte bei der Ermittlung der Hochlastzeitfenster für die atypische Netznutzung eine Toleranzschwelle für einzelne Extremfälle der vertikalen Netzlast an die angeschlossenen Verteilnetze und Abnehmer berücksichtigt werden, sodass bestimmte Einzelfälle nicht zu einer unangemessenen Ausweitung von Hochlastzeitfenstern führen, die die übliche Netzsituation nicht berücksichtigen. Dies würde die Anzahl der Marktteilnehmer, welche sich systemdienlich an der atypischen Netznutzung beteiligen könnten, erhöhen.
Fachbereichsleiter Energiewirtschaft und Regulierung