21.10.2025
Stellungnahme

Stellungnahme zum Diskussionspapier „Entgelte für Industrie und Gewerbe“ vom 24.09.2025

Präambel

Mit der Entscheidung der Bundesnetzagentur vom 17. Juli 2025, die Reform der Industrienetzentgelte in den übergeordneten Reformprozess der allgemeinen Netzentgelte (AgNes) zu integrieren, wurde ein bedeutsamer Schritt für die Weiterentwicklung der Netzentgeltsystematik in Deutschland vollzogen. Fast genau ein Jahr nach Veröffentlichung des Eckpunktepapiers der Beschlusskammer 4 wird damit die zentrale Bedeutung der Sondernetzentgelte für Industrie und Gewerbe im Gesamtkontext der Netzentgeltstruktur ausdrücklich anerkannt. Die Einbindung der Industrienetzentgelte in den AgNes-Prozess verdeutlicht, dass die Reform der Netzentgelte nicht auf eine kurzfristige Anpassung einzelner Sondertatbestände abzielt, sondern darauf, ein tragfähiges und nachhaltiges Fundament für die industrielle Wertschöpfung in Deutschland zu schaffen. Vor diesem Hintergrund begrüßt der VIK zunächst ausdrücklich die Ankündigung der Bundesnetzagentur, die bestehenden Sondertatbestände für individuelle Netzentgelte bis zum 31. Dezember 2028 unverändert beizubehalten und eine verlängerte Übergangsregelung zu ermöglichen.

Der VIK begrüßt zudem das Anliegen der Bundesnetzagentur, verstärkt Möglichkeiten zur Nutzung von Lastflexibilität zu prüfen und unterstützt die Suche nach geeigneten Rahmenbedingungen für eine flexible Stromabnahme. Gleichzeitig weist der VIK auf die praktischen Grenzen der Flexibilisierung hin: Für die meisten Unternehmen bleibt ein gleichmäßiges Abnahmeverhalten – etwa in Form von Bandlast – weiterhin notwendig und relevant. Daher sollte auch künftig die Möglichkeit zur Bandlastabnahme erhalten bleiben, um die Vielfalt industrieller Verbrauchsprofile angemessen zu berücksichtigen.

Das am 24. September 2025 veröffentlichte und im Branchenworkshop am 30. September 2025 diskutierte Diskussionspapier „Entgelte für Industrie und Gewerbe“ stellt drei Optionen für neue Sondertatbestände vor. Der VIK wird im Rahmen dieses Dokumentes zu allen drei Varianten Stellung nehmen, grundlegende Anforderungen an eine praktikable und rechtssichere Ausgestaltung der Sondertatbestände formulieren und darüber hinaus einen eigenen Vorschlag für einen weiteren Sondertatbestand einbringen. Die bereits am 18. September 2024 in Reaktion auf das Eckpunktepapier der BK4 (BK4-24-027) eingebrachte Stellungnahme bleibt darüber hinaus weiterhin gültig und ist auf der Website des VIK einsehbar. Entscheidende, bereits formulierte Argumente, werden im Rahmen der vorliegenden Stellungnahme an entsprechenden Stellen wiederholt.

Zusammenfassung

Langfristige Übergangsregelungen: Mindestens 10 Jahre für die bestehenden Sondertatbestände für individuelle Netzentgelte, um Unternehmen ausreichend Zeit für Anpassungen zu geben.

  • Mehrere Sondertatbestände zulassen: Die Heterogenität der Industrie erfordert verschiedene Optionen für individuelle Netzentgelte, damit unterschiedliche Flexibilitätspotenziale berücksichtigt werden können.
  • Keine Symmetrieanforderung: Flexibilitätsanforderungen dürfen nicht symmetrisch sein, da dies in der Praxis oftmals nicht umsetzbar ist.
  • Flexibilitätspotenziale sind begrenzt, heterogen und oftmals auf die Energieversorgung der eigentlichen industriellen Produktionsprozesse limitiert.
  • Externe Vorgabe der Flexibilitätszeitfenster: Die Anwendung der rechtlichen Grundlage für individuelle Netzentgelte muss risikominimierend und „leitwartentauglich“ sein.
  • Industrielle Flexibilität soll auf freiwilliger und anreizbasierter Grundlage erfolgen – nur minimalinvasive Eingriffe durch die Regulatorik in die betriebswirtschaftlichen Abläufe.
  • Referenzwerte für Flexibilität sollen sich stärker an Lastgängen vor der Flexibilitätserbringung orientieren und nicht zu weit zurückliegen.
  • Flexibilitätsziele auf Monatsbasis bewerten: temporäre Verfehlungen der Flexibilitätsanforderungen (z.B. durch technische Revisionszeiten) sollten nicht in einem kompletten Verlust des Anspruchs auf individuelle Netzentgelte resultieren.
  • Vetorechte für Netzbetreiber: wenn Netzbetreiber ein Vetorecht bei angereizten Flexibilitätsmaßnahmen erhalten, um Netzengpasssituationen zu vermeiden, müssen wirtschaftliche Nachteile für Unternehmen kompensiert werden.
  • Speicherintegration ermöglichen: Die Nutzung von Speichertechnologien zur Flexibilitätserbringung sollte für Unternehmen ermöglicht werden, ebenso sollte aber auch die systemdienliche Ansiedlung von Speichern bedacht werden.
  • Berücksichtigung von „Energiewendekompetenz“: Maßnahmen zur Integration von erneuerbaren Energien wie die Nutzung von PPAs oder die Teilnahme an Systemdienstleistungsmärkten (Regelenergiemärkte) sollen als systemdienliches Verhalten anerkannt werden.

Verlängerung der BK4-22-089 als Übergangslösung, um Unternehmen die Möglichkeit zum regulatorischen Lernen zu geben und eine drohende „Flexibilitätslücke“ ab 2026 zu schließen.

1. Allgemeine Bedingungen für systemdienliche industrielle Produktion

Die Bundesnetzagentur hat im Diskussionspapier und im Branchenworkshop mehrfach betont, dass der neue Sondertatbestand keinem Selbstzweck dienen darf und eine systemdienliche Gegenleistung für den Erhalt individueller Netzentgelte notwendig ist. Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung der Sondertatbestände sind folgende Rahmenbedingungen bei der Ausgestaltung des neuen Sondertatbestände unerlässlich:

Keine Symmetrieanforderung an Flexibilitätserbringung: Ein korrelierender Lastgang, wie exemplarisch in Abbildung 1 auf Seite 21 des Diskussionspapiers dargestellt, lässt sich im betrieblichen Alltag einzelner Unternehmen nicht realisieren. Beispielsweise in konjunkturell schwachen Phasen können Unternehmen gegebenenfalls freie Produktionskapazitäten nutzen, um ihre Last zu erhöhen. Bei voller Auslastung der Anlagen ist jedoch häufig nur eine Reduktion der Last möglich, was zwangsläufig mit geringeren „Economies of Scale“ und damit Nachteilen im internationalen Wettbewerb einhergeht.

Darüber hinaus bestimmen standort- und branchenspezifische Besonderheiten maßgeblich die Möglichkeiten zur Anpassung des Lastgangs. Eine symmetrische Flexibilitätsanforderung kann daher nicht Voraussetzung für die Inanspruchnahme individueller Netzentgelte sein!

Nutzung von technischen Verbundstrukturen an Verbundstandorten: Der VIK begrüßt ausdrücklich, dass die Bundesnetzagentur auf den Begriff der Abnahmestelle abstellt. In Wertschöpfungsketten an Verbundstandorten sind einzelne Produktionsschritte in ihrer Wertschöpfung prozesstechnisch eng aufeinander abgestimmt und miteinander verflochten. Dementsprechend wirken sich Lastreduktionen oder -erhöhungen immer auch auf die vor- und nachgelagerten Anlagen aus, wodurch Reaktionszeiträume sehr träge sind. In diese Verbünde sind auch Prozesse der Energieversorgung (Strom-, Prozessdampf, Kälteversorgung etc.) integriert. Es lassen sich häufig die Produktionsprozesse selbst nicht flexibilisieren, allerdings bestehen größere Potentiale bei zentral produzierten Sekundärenergieträgern. Wird in solche Maßnahmen investiert, so sollten die am jeweiligen Standort produzierenden Unternehmen von der gewonnenen Flexibilität profitieren. Wird ermöglicht, dass mehrere Entnahmestellen für die Flexibilitätsmessung zusammengefasst („geclustert“) werden können, eröffnen sich völlig neue Potenziale für die Erbringung von Systemdienstleistungen. Im Rahmen des Branchenworkshops haben die Vertreter der Bundesnetzagentur zudem klargestellt, dass die internen Abläufe am Industriestandort nicht im Fokus stehen. Daher ist es sinnvoll, auf Abnahmestellen nach dem bisherigen Verständnis wie in der StromNEV in Verbindung mit der Festlegung BK4-13-739 und der entsprechenden FAQ abzustellen. Bei kaufmännisch-bilanzieller Ausspeisung muss für die Jahresarbeit auf die bilanzielle Strommenge und bei dem Flexibilitätskriterium auf den physikalischen Lastgang (Strombezug) abgestellt werden.

Praxisnahe Akzeptanz für Revisionszeiten und Referenzwerte: Der VIK erkennt an, dass die Erbringung von Flexibilität an konkreten Referenzwerten gemessen werden muss. Dabei sollten tendenziell Werte vor der Flexibilitätserbringung als Maßstab herangezogen werden, die eher näher am Zeitpunkt der Flexibilitätserbringung liegen. Länger zurückreichende historische Werte können aufgrund veränderter Marktpreissituationen, Wechsel der Produkte, Revisionsstillständen, Veränderungen der Anlage oder konjunktureller Schwankungen – etwa im Vergleich zum Vorjahr – nicht mehr zutreffend sein. Aktuelleres Lastverhalten spiegelt die tatsächliche betriebswirtschaftliche und konjunkturelle Situation besser wider und ist daher als Referenz praxisnäher und sachgerechter.

Zudem sind Revisionszeiten für Anlagen nicht immer flexibel verschiebbar und können nicht ausschließlich an die Situation im Stromnetz oder am Strommarkt angepasst werden. Der VIK unterstützt daher die Anregung der Bundesnetzagentur, eine bestimmte Anzahl an Tagen pro Jahr festzulegen, an denen eine Zielverfehlung bei der Flexibilitätsbereitstellung für die Rabattgewährung unerheblich ist (S.22). Zusätzlich sollte die Möglichkeit geschaffen werden, eine „Übererfüllung“ der Flexibilitätsanforderungen in einem Zeitraum als Ausgleich für eine mögliche „Untererfüllung“ in einem anderen Zeitraum zu nutzen. Der VIK spricht sich dafür aus, Flexibilitätsziele auf Basis einer monatlichen Betrachtung vorzunehmen. Dadurch würde bei einer temporären Verfehlung der Flexibilitätsanforderungen nur die Entgeltreduktion des betreffenden Zeitraums verloren gehen.

Die Möglichkeit, Speicher nutzen zu können, wird begrüßt: Die Bundesnetzagentur schlägt im Diskussionspapier vor, dass Unternehmen mit geringen oder fehlenden Flexibilitätspotenzialen verstärkt Speichertechnologien einsetzen sollen. Die Möglichkeit, Flexibilität bereitzustellen, ohne direkt in den Produktionsprozess eingreifen zu müssen, sollte grundsätzlich jedem Unternehmen offenstehen, das versteht sich von selbst. Es ist aber ebenso klar, dass die wirtschaftliche Rentabilität solcher Speicherinvestitionen im individuellen Fall unterschiedlich sein kann. Neben den hohen Kosten können auch begrenzte Anschlusskapazitäten, Platzmangel auf dem Werksgelände und genehmigungsrechtliche Hürden die Integration von Speichern an Produktionsstandorten erheblich verzögern oder sogar verhindern. Insofern können Speicherinvestitionen Teil einer unternehmensindividuellen Strategie sein, Flexibilitätspotenziale zu schaffen. Es wird aber auch Fälle geben, in denen dies nicht in Frage kommt.

Darüber hinaus ist der VIK überzeugt, dass eine systemdienliche Ansiedlung von Speichern auch bei volatilen Energieerzeugern erfolgen sollte und nicht nur beim Endverbraucher. Durch die gezielte Platzierung von Speichern an den Erzeugungsanlagen können Netzengpässe präventiv vermieden und das Stromnetz effizienter ausgelastet werden. Im Rahmen des AgNeS-Prozesses sollten daher gezielte Anreize geschaffen werden – beispielsweise durch Baukostenzuschüsse und/oder eine angepasste Struktur der Speicherentgelte –, um die systemdienliche Integration von Speichern zu fördern. Bei einer netzdienlichen Ansiedlung von Speichern im Stromnetz wäre aus Sicht des VIK zudem weniger Lastflexibilität auf Seiten der Stromverbraucher erforderlich, da die Speicher einen wesentlichen Beitrag zur Netzstabilität, Systemdienlichkeit und Integration von erneuerbaren Energien leisten könnten, was die Energiekosten senkt und den Industriestandortort Deutschland stärkt. Es sollte vor diesem Hintergrund für Industrieunternehmen möglich sein, in erzeugungsnahe Speicherlösungen zu investieren und gleichermaßen von einem individuellen Netzentgelt zu profitieren wie bei Zubau eines Speichers an der Abnahmestelle.

Nicht jedes Unternehmen verfügt über die Möglichkeit, seine Stromnachfrage flexibel zu gestalten und die Produktion entsprechend anzupassen. Wie auch im Branchenworkshop vorgestellt, kann eine flexible Stromnachfrage erhebliche Auswirkungen haben beispielsweise auf die Produktqualität, die Produktionskosten, die in anderen Normen gesetzlich vorgeschriebene Energieeffizienz, arbeitstarifrechtliche Fragen, die Lebensdauer von Anlagen, die Flächennutzung in dicht bebauten Industrieanlagen, die Einhaltung immissionsschutzrechtlicher Vorgaben aber auch auf die Sicherheit von technischen Prozessen. Gerade für Unternehmen im internationalen Wettbewerb kommt erschwerend hinzu, dass zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit Skaleneffekte („Economies of Scale“) realisiert werden müssen. Ferner ist festzuhalten, dass bestehende Netzengpässe und Ineffizienzen im Stromsystem primär auf eine mangelnde Synchronisierung zwischen dem Ausbau von (erneuerbaren) Erzeugungskapazitäten und dem Netzausbau zurückzuführen sind – und weniger auf das Lastverhalten industrieller Großverbraucher, welche vielmehr zur effizienten Auslastung der Stromnetze beitragen. Diese strukturellen Herausforderungen dürfen nicht dazu führen, dass technische, betriebswirtschaftliche und organisatorische Grundsätze industrieller Produktion grundlegend und zwangsweise umgestellt werden müssen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass industrielle Flexibilität allein die bestehenden Probleme im Stromnetz lösen kann. Bestehende und potenzielle zukünftige industrielle Lastflexibilitäten können zwar einen Beitrag zur Systemstabilität leisten, sollten jedoch ausschließlich auf freiwilliger und anreizbasierter Grundlage genutzt werden. Entscheidend bleibt der synchrone Ausbau von Stromerzeugung, Netzen und Speichern (einschließlich Wasserstoff). Lastseitige Flexibilität kann das Energiesystem sinnvoll ergänzen, ist jedoch kein Ersatz für die anderen tragenden Säulen der Energiewende.

Lange Übergangsregeln sind unverzichtbar: Selbst Unternehmen, die seit vielen Jahren gezielt Flexibilitätspotenziale erschließen, sind weiterhin auf eine Verlängerung des derzeitigen Sondertatbestands zur Bandlastregelung angewiesen. Zahlreiche Industrieunternehmen in Deutschland betreiben mehrere Standorte bundesweit. Sollte ab dem 1. Januar 2029 an jedem Standort die Erfüllung von Flexibilitätsanforderungen verpflichtend werden, steht nicht ausreichend Zeit zur Verfügung, um sämtliche Standorte rechtzeitig umzurüsten. Diese Problematik wird durch die Knappheit technischer Schlüsselkomponenten zur Flexibilitätsbereitstellung sowie durch begrenzte Netzanschlusskapazitäten zusätzlich verschärft.

Unternehmen, die bislang aus wirtschaftlichen oder technischen Gründen keine oder nur geringe Flexibilitätspotenziale aufweisen, benötigen zunächst praktische Erfahrungen und müssen zudem technische Komponenten mit langen Lieferzeiten beschaffen oder entsprechende Förderanträge genehmigen lassen. Vor diesem Hintergrund ist eine Übergangsfrist für die bestehenden Sondertatbestände von mindestens 10 Jahren aus Sicht des VIK unverzichtbar, um eine realistische und wirtschaftlich tragfähige Umsetzung der neuen Sondertatbestände zu gewährleisten. Für Unternehmen, die auch langfristig die geforderten Flexibilitätsanforderungen nicht technisch und betriebswirtschaftlich sinnvoll erbringen können, müssen zur Vermeidung von wirtschaftlichen Verwerfungen andere Entlastungsmöglichkeiten geschaffen werden, wie es die Bundesregierung z.B. im Koalitionsvertrag angekündigt hat.

Kurzfristige Verlängerung der BK4-22-089 als notwendige Übergangslösung: Aus Sicht des VIK ist eine Verlängerung der Festlegung BK4-22-089 über das Jahr 2025 hinaus zwingend erforderlich, bis eine umfassende Reform des § 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV sorgfältig abgeschlossen und implementiert ist. Die Verlängerung dieser Festlegung dient als notwendige Übergangsregelung, um die ab Ende 2025 drohende „Flexibilitätslücke“ zu vermeiden. Die Unternehmen können so ihre Flexibilitätspotenziale schrittweise weiterentwickeln und dem Markt zur Verfügung zu stellen, außerdem besteht die Möglichkeit zum regulatorischen Lernen mit Flexibilitätsanforderungen. Gleichzeitig wird ein Investitionsschutz für bereits getätigte und geplante Maßnahmen zur Flexibilitätssteigerung gewährleistet. Obwohl die Inanspruchnahme der Festlegung nach bisherigem Kenntnisstand möglicherweise hinter den regulatorischen Erwartungen zurückbleibt, wird die Regelung von Unternehmen genutzt oder bildet die Grundlage für entsprechende Investitionsentscheidungen.

2. Konkrete Anmerkungen zum Diskussionspapier

Die Bundesnetzagentur stellt im Diskussionspapier vom 24. September 2025 drei Optionen für Bedingungen für den Erhalt von individuellen Netzentgelten vor. Der VIK begrüßt, dass verglichen zu den diskutierten Vorschlägen im Jahr 2024 wesentlich mehr Optionen zur Auswahl stehen. Diese Bandbreite ermöglicht es, die verschiedenen industriellen Lastverhalten und Flexibilitätspotenziale zu erfassen. Im Folgenden wird zu jeder der einzelnen Optionen Stellung bezogen.

A - Spotmarktorientierte Flexibilitätsanreize

Der erste Ansatz zielt darauf ab, durch gezielte Anreize eine stärkere Reaktion der Unternehmen auf Entwicklungen am Spotmarkt zu fördern. Aus Sicht des VIK sind dabei insbesondere die Faktoren Vorlaufzeit, Höhe der erforderlichen Lastabweichung, Festlegung der relevanten Zeitfenster sowie der Umgang mit potenziellen negativen Wechselwirkungen im Stromnetz von zentraler Bedeutung.

Wie bereits eingangs erläutert, existiert nicht „die“ energieintensive Industrie. Für eine möglichst allgemein anwendbare Regelung sollte daher insbesondere die sogenannte „Leitwartentauglichkeit“ im Vordergrund stehen. Leitwartentauglichkeit bedeutet, dass z.B. der technisch-operative Schichtleiter einer Industrieanlage eigenständig und ohne aufwendige Abstimmungen mit der Energieabteilung (falls vorhanden) über die Fahrweise der Anlagen entscheiden kann, ohne Gefahr zu laufen, einen Netzentgeltrabatt zu gefährden. Unter dieser Prämisse ist es sinnvoll, die relevanten Zeitfenster für Flexibilitätsmaßnahmen extern und zentral vorzugeben. Dies würde Risiken vermindern und die Planungssicherheit erhöhen. In diesem Kontext ist mit Blick auf die Qualität von Preisprognosen die Frage zu stellen, wie sich die Prognosequalität zukünftig entwickeln wird. Bei weiterem starkem Zubau erneuerbarer Energieanlagen, insbesondere aber Zubau von Speichern und dementsprechend stärker steigender flexibler Reaktion (im Gesamtsystem, nicht notwendigerweise in der Industrie), wäre zunächst (ggf. temporär) eine Verschlechterung der Prognosegüte nicht auszuschließen.

Die Vorlaufzeit sollte zudem mit Zyklen anderer Meldepflichten korrespondieren. Wie die Bundesnetzagentur zutreffend feststellt, sind die aktuellen Prognosedaten des Energiemarktes bereits mehrere Tage vor dem Lieferzeitpunkt sehr zuverlässig. Die höchsten und niedrigsten Preise auf den Spotmärkten treten in der Regel in stabilen Blöcken auf, die sich auch über längere Zeiträume, beispielsweise einen Monat, als konstant erweisen. Eine zentrale und frühzeitige Veröffentlichung dieser Hoch- und Niedrigpreiszeitfenster ist daher durchaus möglich. Zwar kann eine Pauschalierung der Zeitfenster dazu führen, dass einzelne Hoch- oder Niedrigpreisstunden nicht immer optimal abgebildet werden – insbesondere bei den Niedrigpreiszeitfenstern kann die Treffergenauigkeit gegenüber einer tagesaktuellen Ermittlung etwas abnehmen. Dieser Nachteil wird jedoch durch die deutlich verbesserten Teilnahmemöglichkeiten, die höhere Planungssicherheit und die bessere Integration in die betriebliche Praxis mehr als ausgeglichen. Selbst für Unternehmen, die technisch in der Lage wären, ihre Last kurzfristig am Intraday-Markt auszurichten, kann eine zu kurze Vorlaufzeit organisatorisch oftmals nicht umsetzbar sein. Die unterschiedlichen Reportingpflichten gegenüber Stakeholdern wie Netzbetreibern, der Bundesnetzagentur und innerhalb des Unternehmens würden bedeuten, dass parallel verschiedene Fahrweisen geplant und koordiniert werden müssten. Dies kann eine erhebliche organisatorische Herausforderung darstellen und ist in der betrieblichen Praxis oft nicht realisierbar. Aus Sicht des VIK sollte daher eine Vorlaufzeit gewählt werden (bspw. drei Tage), die sowohl die Zyklen am Strommarkt als auch die operative Praxis angemessen austariert.

Der Referenzwert für die Messung der Flexibilität sollte – wie bereits ausführlich dargelegt – nicht auf zu weit zurückliegenden historischen Werten basieren, sondern tendenziell näher am aktuellen Lastgang.

Insbesondere bei einer Lasterhöhung im Niedrigpreiszeitfenster besteht die Möglichkeit, dass dies zu netzseitigen Engpässen führen kann. Daher sollte dem Netzbetreiber ein Vetorecht eingeräumt werden. Ein solches Vetorecht stellt jedoch einen erheblichen Eingriff in die betriebswirtschaftliche Freiheit der Unternehmen dar. Es darf sich daher nicht negativ auf die Berechnung individueller Netzentgelte auswirken, und etwaige wirtschaftliche Verluste, die daraus resultieren, sollten finanziell kompensiert werden, da die Untersagung einer Flexibilitätsfahrweise nicht in der Einflusssphäre des Unternehmens liegt („Flexibilitätsfiktion“).

Das Potenzial für Lastabweichungen ist, wie bereits ausgeführt, asymmetrisch und sowohl zwischen als auch innerhalb der Branchen und Unternehmen sehr unterschiedlich ausgeprägt. Für Unternehmen mit Flexibilitätspotenzial sind einseitige Lastverschiebungen im niedrigen einstelligen Prozentbereich realistisch. Für Unternehmen ohne Flexibilitätspotenzial sind selbst diese Anforderungen zu hoch. Vorschläge für eine kontinuierliche Steigerung der Flexibilitätsanforderungen, etwa in Form eines „Flexibilisierungsbands“, sind aus Sicht des VIK nur akzeptabel, wenn dieser moderat, klar strukturiert ansteigt bis zu einem definierten Endwert. Dies schafft Planungssicherheit und gleichzeitig Raum für Lernprozesse.

B – Netzdienliche Flexibilisierung

Der zweite Ansatz verfolgt das Ziel, ein netzdienliches Lastverhalten der Unternehmen durch Orientierung am Netzzustand anzureizen. Dadurch sollen die Kosten des Netzengpassmanagements gesenkt werden. Dieser Ansatz weist Parallelen zur derzeitigen atypischen Netzentgeltregelung gemäß § 19 Abs. 2 Satz 1 StromNEV auf.

Die aktuelle Ausgestaltung der Atypik nach Beschluss BK4-13-739 sieht vor, dass die relevanten Zeitfenster mit einem Jahr Vorlauf quartalsweise und für jede Netzebene separat vorgegeben werden. Die Bundesnetzagentur schlägt nun vor, die Vorlaufzeit radikal auf wenige Tage zu verkürzen. Während dies für einzelne bestehende atypische Netznutzer unter Umständen umsetzbar ist, ist es für alle Nutzer, die die Atypik geplant nutzen (z.B. für Wartungsstillstände) schwierig möglich und für die meisten aktuellen Bandlastkunden – wie auch im Diskussionspapier angedeutet – praktisch unmöglich. Problematisch ist zudem der Fall, dass eine Reihe Industrieunternehmen an Industrienetze mit einem eher gleichmäßigen Lastverlauf angeschlossen sind. Würden die Betreiber dieser Netze gezwungen, auf dieser Basis Hoch- und/oder Niedriglastzeitfenster zu definieren, entstünden lange, ausgeprägte Zeitfenster, die praktisch kaum bedient werden können und im Lastgangprofil kaum ersichtlich sind.

Hoch- und Niedriglastzeitfenster müssen entsprechend der jeweiligen Netzebene extern vorgegeben werden. Diese Zeitfenster korrelieren jedoch nicht zwangsläufig mit den Preissignalen des Strommarktes oder der Netzsituation auf anderen Netzebenen. Dies hätte zur Folge, dass insbesondere Unternehmen im netztechnischen Süden nicht von möglichen Energiepreiseinsparungen am Strommarkt profitieren könnten, sofern die Flexibilitätserbringung ausschließlich an netzseitigen Anforderungen ausgerichtet wird.

Das Potenzial und die Mindestdauer für die Erbringung von Flexibilität sind unternehmensspezifisch sehr unterschiedlich. In der Regel liegen die Flexibilitätspotenziale eher im Bereich der Energieversorgung und anderen Sekundärprozessen als in den Produktionsprozessen selbst. Rampenprobleme lassen sich in der Praxis nicht vollständig vermeiden, können jedoch durch die Definition von Toleranzbereichen vor und nach den Zeitfenstern praktikabel in den Flexibilitätsprozess integriert werden. Des Weiteren sollte überprüft werden, ob die Festlegung der Hochlastfenster auf der höchsten Spannungsebene der ÜNB/VNB erfolgen soll, und ob die Ermittlung auf einzelnen Spannungsebenen noch sinnvoll ist.

Bezüglich der erforderlichen Vorlaufzeit verweist der VIK ergänzend auf die Ausführungen zu Option A sowie auf die allgemeinen Bemerkungen in dieser Stellungnahme.

C – Netzdienliche Anforderungen des Flexibilitätseinsatzes durch Netzbetreiber

Der dritte Ansatz sieht vor, die Gewährung individueller Netzentgelte daran zu knüpfen, dass der Verbraucher sich verpflichtet, auf Anforderung des Netzbetreibers Flexibilität bereitzustellen. Dieser Ansatz adressiert zwar einige der im Zusammenhang mit Option B identifizierten Probleme, bringt jedoch neue Herausforderungen mit sich. Die Bundesnetzagentur hat bislang keine konkreten Rahmenbedingungen für die Ausgestaltung von Option C benannt. Wesentliche Parameter wie Häufigkeit, Ausmaß, Dauer und Vorlaufzeit der Flexibilitätsanforderungen bleiben offen und würden im Ermessen der Netzbetreiber liegen.

Durch den zunehmenden Wegfall von regulatorischen Flexibilitätshemmnissen ist davon auszugehen, dass Unternehmen, die über die entsprechenden technischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen verfügen, ihre Stromnachfrage künftig stärker an den Preissignalen der Strommärkte ausrichten werden – und zwar auch ohne zusätzlichen regulatorischen Eingriff. Aus Sicht des VIK ist es unerlässlich, dass – wie bei allen anderen Optionen – die Häufigkeit der Eingriffe auf ein Minimum beschränkt wird, um betriebswirtschaftliche Abläufe nicht unnötig zu beeinträchtigen. Daher sollte der Netzbetreiber nur in Ausnahmefällen und möglichst minimalinvasiv steuernd eingreifen dürfen. Da die Eingriffsqualität bei diesem Instrument mit Abstand am höchsten ist, sollten die für das Erreichen der Entlastung nötigen Schwellenwerte sehr viel niedriger angesetzt werden als bei den anderen beiden Optionen. Um geografisch stark abweichende oder sehr uneinheitliche Vorgaben einzelner Netzbetreiber vorzubeugen, sollten zentrale Leitvorgaben möglichst durch die Bundesnetzagentur definiert werden. Eine bundeseinheitliche Regelung stärkt die Transparenz und Rechtssicherheit für die Unternehmen.

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass bereits heute vergleichbare Flexibilitätsinstrumente existieren, die der vorgeschlagenen Option C ähneln – etwa die FSV Seal (abschaltbare Lasten) oder bestimmte Formen der Regelleistungserbringung. Diese in der Praxis bewährten Modelle sollten in die künftige Ausgestaltung eines Netzentgeltrabattes einbezogen werden, um bestehende Strukturen zu nutzen und Doppelregelungen zu vermeiden.

In der derzeit noch unausgereiften Form ist eine finale Bewertung der Option C aus Sicht des VIK nicht möglich, hierzu wären weitere Informationen zur Ausgestaltung erforderlich.

3. Zwischenfazit zu den drei Optionen

Die drei von der Bundesnetzagentur vorgestellten Optionen zur Ausgestaltung individueller Netzentgelte bieten unterschiedliche Ansätze zur Integration industrieller Flexibilität in das Stromsystem. Positiv hervorzuheben ist, dass die Diskussion im Vergleich zum Vorjahr deutlich breiter geführt wird und verschiedene Lösungswege zur Auswahl stehen. Die Analyse zeigt, dass alle Optionen mit erheblichen praktischen Herausforderungen für die Industrie verbunden sind und keine der Optionen eindeutig überlegen ist. Darüber hinaus ist eine Flexibilitätserbringung, unabhängig von der konkreten Option, in der Regel mit höheren Produktionskosten, geringerer Energieeffizienz und zusätzlichen Investitionen verbunden. Es ist völlig unklar, ob diese Kosten jemals durch niedrigere Stromkosten kompensiert werden können, wenn ein Unternehmen zur richtigen Zeit den Bezug erhöht bzw. verringert. Dies wäre aber unerlässlich, wenn eine Neuregelung nicht die Wettbewerbsfähigkeit verschlechtern soll.

Für den VIK ist entscheidend, dass künftige Regelungen praxistauglich, planbar und investitionssicher ausgestaltet werden. Die Heterogenität der industriellen Verbraucher, die unterschiedlichen Flexibilitätspotenziale sowie die Notwendigkeit von Planungssicherheit und wirtschaftlicher Tragfähigkeit müssen zwingend berücksichtigt werden. Daher spricht sich der VIK – analog zu der bestehenden Situation (atypische und intensive Netznutzung) – für die Zulassung mehrerer Sondertatbestände aus. Damit kann das sehr heterogene Flexibilitätspotenzial der Industrie in seiner gesamten Breite eher gehoben werden. Darüber hinaus bringt der VIK eine weitere Option in die Diskussion ein, die neben die obigen Vorschläge gestellt werden sollte und ergänzende Wege zur systemdienlichen Nutzung von Flexibilität aufzeigt.

4. Variante D – Nachweis einer „Energiewendekompetenz“

Der VIK hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, wie systemdienliches Verhalten der Industrie nachgewiesen und angereizt werden kann, ohne zwingend weitere Flexibilitätsanforderungen stellen zu müssen. Aus Sicht des VIK können verschiedene Maßnahmen der Industrie einen wichtigen Beitrag zur Integration erneuerbarer Energien in das Stromsystem leisten.

Ein Beispiel hierfür ist der vermehrte Strombezug über Power Purchase Agreements (PPAs) aus erneuerbaren Energieanlagen. Werden solche Anlagen gezielt für industrielle Abnehmer errichtet und über PPAs direkt vermarktet, entsteht Investitionssicherheit für die Anlagenbetreiber, während der Anteil klimaneutralen Strombezugs in der Industrie steigt – ohne zusätzliche Flächenbelastung auf den Industriearealen. In Zeiten, in denen die erneuerbaren PPA-Anlagen keinen Strom liefern, können viele Unternehmen ihren Bedarf über eigene Kraftwerke decken, ohne das Stromnetz zusätzlich zu belasten. Damit wird eine netzentlastende Wirkung erzielt, die auch europarechtlich als systemdienliches Verhalten anerkannt werden kann.

Darüber hinaus kann auch die Erbringung von Systemdienstleistungen – etwa durch die Teilnahme an Regelleistungsmärkten (wie PRL, SRL, MRL) – als systemdienliches Verhalten gewertet werden. Diese Maßnahmen sind häufig bereits mit der Hebung von Lastflexibilitäten verbunden, sodass es aus Sicht des VIK nicht zielführend wäre, an anderer Stelle zusätzliche Flexibilitätsanforderungen für eine Entlastung bei den Netzentgelten zu verlangen, da so zwangsläufig die heute für Systemdienstleistungen bereitgestellten Mengen reduziert würden. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Zeiträume für die Erbringung von Flexibilität an den Märkten oder im Rahmen von Systemdienstleistungen variieren können, sollte eine Doppelbelastung der Unternehmen vermieden werden.

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Bruno Wangemann
Ansprechpartner

Bruno Wangemann

Referent für Energie- und Stromwirtschaft