Grundsätzliches
• Vor dem Hintergrund der bis vor Kurzem noch undenkbaren Lage eines Krieges in Europa wird die Novellierung und damit Aktualisierung des Energiesicherungsgesetzes und weiterer energiewirtschaftlicher Vorschriften begrüßt, um die Versorgungssicherheit der Bevölkerung sowie von Industrie und Gewerbe sicherzustellen.
• Der VIK erkennt an, dass der Gesetzesentwurf unter schwersten außen- und sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen sehr zügig auf den Weg gebracht wurde. Angesichts der mit der derzeitigen volatilen Situation auf den Energiemärkten einhergehenden exorbitant hohen Preise und der damit verbundenen erheblichen Kostenbelastungen für die Gesellschaft ist es wichtig, das Ziel der Versorgungssicherheit möglichst effizient und kosten-günstig zu erreichen.
• Vor dem Hintergrund der gefährdeten Versorgungssicherheit erkennt der VIK die Notwendigkeit, dass über den Rahmen der EnSiG-Novelle hinaus auch Einsparpotenziale beim Erdgasverbrauch genutzt werden. Dazu gehört, dass für die im Rahmen des Kohleverstromungsbeendigungsgesetz (KVBG) bereits bezuschlagten Kraftwerke das Stilllegungsdatum - ohne Nachteile für die Betreiber - auf das Ende der übernächsten Heizperiode verschoben wird. Diese Änderung lässt sich pragmatisch durch eine Anpassung des KVBG im Rahmen des Artikelgesetzes durchführen. Bei diesem zeitlich befristeten Weiter-betrieb von Kohlekraftwerken müssen allerdings die Besonderheiten industrieller KWK-An-lagen berücksichtigt werden, die eine jahrzeitlich durchgängige Wärme-/Dampfversorgung liefern müssen. Bei diesen Kraftwerken ist ein „Start-Stop-Betrieb“ wie bei der Sicherheitsbereitschaft öffentlicher Kondensationskraftwerke (die ausschließlich Strom produzieren) nicht möglich und wirtschaftlich auch nicht abbildbar. Insofern muss der Betrieb für die Industrieunternehmen eigenverantwortlich, ohne Nachteile und unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten ermöglicht werden, um den Erdgasverbrauch möglichst effektiv durch Substituierung senken zu können.
• Gleiches gilt auch mit Bezug auf das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz (KWKG): Die Absicherung bereits in Planung befindlicher Bau- und Modernisierungsprojekte durch bspw. das Vorliegen entsprechender KWK-Förderungsvorbescheide, die einer zeitlichen Verjährung unterliegen, darf dabei nicht gefährdet werden. Ein Aussetzen der in §12 Absatz 4 und 5 KWKG genannten Erlöschungsfristen – im Idealfall um mindestens ein Jahr – ist hierfür unabdingbar. Dieses Aussetzen des zeitlich bedingten Erlöschens der Vorbe-scheide gem. §12 Absatz 4 und 5 KWKG wäre in einem weiteren Absatz im genannten Paragrafen oder in den Übergangsbestimmungen des §35 KWKG zu ergänzen.
- Zu Artikel 1 Nr. 4 (§1 Absatz 1 Nr. 5 EnSiG)
- Der VIK begrüßt die Möglichkeit der befristeten Ausnahme und Abweichung vom Bundes-Immisionsschutzgesetz (BImSchG) und darauf gestützten Rechtsvorschriften, da diese die kurzfristige Genehmigung eventueller „fuel-switch“-Maßnahmen in der industriellen Erzeugung erleichtern und so zu einer Reduktion des Gasbedarfs und damit der Versorgungssicherheit insgesamt beitragen.
- Angesichts langer Vorlaufzeiten bei der Umstellung auf alternative Brennstoffe (insb. Öl) und vor dem Hintergrund immer größerer Verzögerungen in der Lieferkette ist zu bedenken, dass Abweichungen vom BImSchG frühzeitig ermöglicht werden sollten, um betroffenen Unternehmen Anreize und Planungssicherheit zu gewährleisten, die notwendigen Materialien zu beschaffen und Fachkräfte zu beauftragen. Insofern sollte der § (1) S.1 EnSiG dahingehend ergänzt werden, dass dies auch „vorbereitend bzw. sicherstellend“ erfolgen kann. Angesichts des erforderlichen Vorlaufs wird daher angeregt, von der vorgesehenen Verordnungsermächtigung zeitnah Gebrauch zu machen, eine solche Verordnung jetzt bereits vorzubereiten und eine evtl. notwendige Länder- und Verbändeanhörung hierzu zeitnah einzuleiten.
- Zudem muss sichergestellt werden, dass eine Abweichung von BImschG und BImschV sich möglichst unmittelbar in bestehenden Genehmigungsbescheiden niederschlägt. Hierzu wäre die Einführung des Instruments einer „Allgemeinverfügung“ durch die Bundesregierung zu prüfen. Alternativ könnte auch ein entsprechendes „gebundenes Ermessen“ für die zuständigen Genehmigungsbehörden eingeführt werden.
- Es wird außerdem angeregt, die aufgelisteten immissionsschutzrechtlichen Abweichungen und Ausnahmen auf Vollständigkeit zu prüfen und gegebenenfalls zu erweitern. So sollte die Liste um wasserrechtliche Genehmigungen (Wasserhaushaltsgesetz, Verordnung über Anlagen zum Umgang mit wassergefährdenden Stoffen) ergänzt werden, um auch die für einen fuel-switch (insb. bei Öl) zwingend notwendigen Treibstofflager zu ermöglichen. Sollte eine europarechtskonforme Ausgestaltung nicht möglich sein, sollte die Bundesregierung auf entsprechende Änderungen hinwirken. Generell soll sichergestellt werden, dass eventuell nicht berücksichtigte Regelungen unbürokratisch nachträglich aufgenommen werden können.
- Zu Artikel 1 Nrn. 5 (§ 2b EnSiG) und 12 (§ 10 EnSiG)
- Der VIK sieht die Erfassung der Gasmengen und -preise durch die digitale Plattform für Erdgas kritisch, da es sich bei den genannten Daten um hochsensible Unternehmensinformationen handelt. Das Prinzip der Datensparsamkeit muss oberste Priorität haben. Daher sollte konkretisiert werden, an welche zuständigen Behörden die Informationen weitergegeben werden dürfen. Auch sollte klarer definiert werden, welche Form von Preisinformationen abgefragt werden dürfen. Aus Sicht des VIK ist jedenfalls eine Abfrage von Beschaffungspreisen nicht sinnvoll.
- Der Marktgebietsverantwortliche hat in jedem Fall die Einhaltung der Mindeststandards nach § 8 Abs. 1 bzw. Abs. 1a BSI-Gesetz sicherzustellen. Daher sollte folgende Ergänzung erfolgen: „Der Marktgebietsverantwortliche hat die Einhaltung der Mindeststandards nach § 8 Abs. 1a BSI-Gesetz zu gewährleisten und die Kontrolle durch das BSI zu ermöglichen; abweichend von § 8 Abs. 1a Satz 4 bedarf es des Einvernehmens des Marktgebietsverantwortlichen hierzu nicht“.
- Zu Abschnitt 2 (§ 24 Absatz 1 EnSiG)
- Satz 1 ist durch die Bedingung zu ergänzen, dass die Reduzierung der Mengen durch von den Gasimporteuren nicht zu beeinflussende Faktoren begründet ist.
- Eine plötzliche Erhöhung der Gaspreise seitens der Gasversorger im Krisenfall hätte deutlich negative wirtschaftliche Folgen für die unmittelbar betroffenen Unternehmen aus den verschiedensten Industrie-Branchen. Durch die vorgeschlagene Regelung verlagert sich die aus der Gesetzesbegründung ersichtliche finanzielle Schieflage von den Versorgern insbesondere auf energieintensive Abnehmer.
- Dennoch begrüßt der VIK die grundsätzliche Intention, Gasimporteure im Krisenfall ausfallender Gaslieferungen nach Deutschland zu schützen. Er kritisiert allerdings den Interpretationsspielraum hinsichtlich des Geltungsbereichs der Regelung sowie hinsichtlich der Definition, welche konkrete Reduktion der Gasimportmenge für den Krisenfall maßgeblich ist. So ist in Bezug auf den Geltungsbereich unklar,
- ob sich die Regelung nur auf den Lieferort Trading Hub Europe (THE) beschränken oder auch bei Lieferungen in anderen Marktgebieten auf Basis deutscher Handels- und Lieferverträge gelten soll,
- wie z. B. mit Lieferungen im Marktgebiet THE auf Basis von Handels- und Lieferverträgen im Geltungsbereich nicht-deutschen Rechts umgegangen werden soll
- und wie die Rückwirkung auf nachgelagerte Märkte ausgestaltet sein soll. So stellt sich etwa die Frage, ob z. B. Gaskraftwerksbetreiber Preiserhöhungen bei ihrem bereits am Terminmarkt besicherten Gasbedarf über Preiserhöhungen bei ihrem ebenfalls bereits am Terminmarkt verkauften Strommengen an ihre Stromkunden weitergeben können und ob in diesem Fall auch bei anderen unter Erdgaseinsatz hergestellten Produkten einseitige Preisanpassungen möglich sind.
- Neben diesen Unklarheiten würde eine Anwendung von § 24 durch das kaskadierte Durchreichen von Preiserhöhungen über alle Stufen der Lieferkette erheblichen operativen Mehraufwand im komplexen und weitverzweigten Gashandelssystem verursachen. In jeder einzelnen Stufe der Lieferkette müsste transparent nachgewiesen werden, dass tatsächlich lediglich die Mehrkosten weitergereicht und keine zusätzlichen Margen generiert werden. Durch häufige Handelsaktivitäten in beide Richtungen würde es hierbei auch zu zahlreichen Zirkelschlüssen kommen. Neben dem kaum abschätzbaren operativen Mehraufwand ergäbe sich auch erhebliches Potential für langanhaltende Rechtsstreitigkeiten und ggf. damit verbundene nachträgliche weitere Preisanpassungen über die gesamte Lieferkette.
- Die Regelung würde sowohl Zwischenhändler als auch Letztverbraucher in Abhängigkeit von deren bisheriger individueller Preisbesicherungsstrategie unterschiedlich stark treffen. Marktteilnehmer, die bislang keine Preisbesicherung vorgenommen haben, hätten keine Nachteile gegenüber dem Status Quo (d.h. ohne §24 EnSiG). Markteilnehmer, die hingegen offene Positionen frühzeitig preisbesichert haben, müssten aufgrund des deutlich gestiegenen Marktpreisniveaus erhebliche Nachteile gegenüber dem Status Quo (d.h. ohne §24 EnSiG) in Kauf nehmen. Dies führt zu einer starken Ungleichbehandlung der Marktteilnehmer und setzt drastische Fehlanreize für die Zukunft: Bisher war das Chance/Risiko-Verhältnis mit Blick auf das Marktpreisänderungsrisiko beim Schließen von Short-Positionen symmetrisch. Die auf Basis der vorgeschlagenen Regelung nach § 24 (1) drohende Gefahr einer nachträglichen Preisanpassung bei bis dato unbedingten Termingeschäften, führte jedoch zu einer drastischen Schwächung des Terminmarkts und erhöhte die damit verbunden betriebs- und volkswirtschaftlichen Risiken.
- Der VIK regt daher an, § 24 zu streichen und die wirtschaftlichen Risiken der Gasimporteure durch eine direkte finanzielle Unterstützung abzufedern. Die Gegenfinanzierung könnte über den Haushalt erfolgen. Dies wäre operativ deutlich einfacher umsetzbar, erhöhte die Rechtsicherheit und eliminierte die mit der Regelung im Kabinettsentwurf angelegte Ungleichbehandlung der Marktteilnehmer. Durch die vielschichtigen internationalen Geschäftsverflechtungen ist zudem insgesamt eine europäische Lösung zu bevorzugen. Der VIK regt zudem die Ergänzung einer Kompensationsregelung an, die es betroffenen industriellen Gaskunden ermöglichen würde, die im Krisenfall aufgrund einer Gasmangellage entstehenden Mehrkosten auszugleichen.
- Es sollte jedoch, sofern nicht bereits Individualregelungen zwischen Gasabnehmern und ihren Kunden bereits bestehen, die Fälle höherer Gewalt und Regelung zur Risikoverteilung im Falle plötzlich steigender Gaspreise enthalten, zumindest gesetzlich fixiert werden, dass eine derartige Preisanhebung, die in § 24 Absatz 1 EnSiG vorgesehen ist, für unmittelbar betroffene energieintensive Abnehmer grundsätzlich einen Fall höherer Gewalt darstellt. Dies würde Gasabnehmer ihrerseits berechtigen, im Krisenfall nötige Preisanpassungen bei laufenden Lieferverpflichtungen gegenüber ihren Produktkunden vorzunehmen. Bei einer Preisanpassung würden wiederum Kunden der Abnehmer ein außerordentliches Kündigungsrecht erhalten, das unverzüglich nach Zugang der Preisanpassungsmitteilung auszuüben ist.
- Zu Abschnitt 2 (§ 24 Absatz 2 EnSiG)
- Laut § 24 Absatz 2 haben „Kunden solcher Energieversorgungsunternehmen, die vom Recht auf Preisanpassung nach Absatz 1 Satz 1 Gebrauch gemacht haben, das Recht, die Anpassung des Vertrags zu verlangen“, wenn eine erhebliche Reduzierung der Ge-samtgasimportmengen nach Deutschland nicht mehr vorliegt. Um auszuschließen, dass betroffene Unternehmen dauerhaft belastet werden, sollte stattdessen eine verpflichtende Rücknahme temporärer Preiserhöhungen seitens der Gasversorger und die Rückkehr zu ursprünglichen Lieferverträgen klar festgelegt werden, wenn kein Krisenfall mehr besteht.
- Zu §§ 11 und 12 EnSiG
- Trotz der Neuregelungen zur Entschädigung für Solidaritätsmaßnahmen für Erdgas (§ 13) sowie zur Entschädigung für Enteignungen zur Sicherung der Energieversorgung im Bereich der kritischen Infrastruktur (§ 21) ist fraglich, ob und inwieweit bspw. von einer kurzfristig angeordneten hoheitlichen Abschalt-/Lastreduktionsmaßnahme Betroffene, deren Anlagen dadurch dauerhaft beschädigt werden, die hohen Anforderungen bzw. Tatbestandsvoraussetzungen der beiden Normen erfüllen. So setzt bspw. der Härteausgleich nach § 12 voraus, dass eine Entschädigung in Geld für einen Vermögensnachteil nur gewährt wird, wenn die wirtschaftliche Existenz des Betroffenen durch unabwendbare Schäden gefährdet oder vernichtet ist oder die Entschädigung zur Abwehr oder zum Ausgleich ähnlicher unbilliger Härten geboten ist. Es ist nicht einsichtig, warum in diesen Fällen hoheitlichen Handelns im Ergebnis in den meisten Praxisfällen eine entschädigungslose Aufopferung des Betroffenen erfolgen soll und muss. Daher sollte die allgemeine Entschädigungsregel (für Enteignung) in § 11 und die Härtefallregelung für Vermögensnachteile der von hoheitlichen Maßnahmen Betroffenen (§ 12) tatbestandlich entsprechend weiter gefasst werden.